I. Hintergrund

 

Rz. 184

Bei schwerwiegenden Verfahrensverletzungen oder greifbarer Gesetzeswidrigkeit wurde in der Vergangenheit die in der VwGO nicht vorgesehene außerordentliche Beschwerde für statthaft erachtet. In der Rechtsprechung des BVerwG war insoweit anerkannt, dass eine von Gesetzes wegen unanfechtbare gerichtliche Entscheidung dann ausnahmsweise mit der Beschwerde angreifbar sein sollte, "wenn sie jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und inhaltlich dem Gesetz fremd ist".[193] Sie kam insbesondere unter der Voraussetzung der greifbaren Gesetzeswidrigkeit in Betracht. Dies setzte voraus, dass die angefochtene Entscheidung mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist.[194] Ein derartiger Gesetzesverstoß musste substantiiert dargelegt werden.

 

Rz. 185

Die außerordentliche Beschwerde schied aber jedenfalls dann aus, wenn der Mangel mit einem gesetzlich vorgesehenen Rechtsbehelf geltend gemacht werden konnte.[195]

[193] BVerwG BayVBl 2000, 764, m.w.N. auf die Rspr. des BVerwG.
[194] BVerwG NVwZ-RR, 2000, 257, 258; DVBl. 2001, 310; HambOVG NVwZ-RR, 2001, 612.
[195] Bader u.a., 2. Aufl. 2002 vor § 124 Rn 7 m.w.N.

II. Voraussetzungen

 

Rz. 186

Folgende Voraussetzungen konnte man benennen:[196]

schwerwiegende Mängel der gerichtlichen Entscheidung, d.h. die Entscheidung ist mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar, z.B.:

weil sie jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und inhaltlich dem Gesetz fremd ist oder
aus anderen Gründen an einem schweren, dem Betroffenen unzumutbaren Fehler leidet;

verfahrensrechtliche Voraussetzungen:[197]

Zuständigkeit und Abhilfebefugnis des angerufenen Gerichts,
Vertretungserfordernis im Rahmen des § 67 VwGO,[198]
Beschwer des Beschwerdeführers,
Rechtsschutzbedürfnis,
Beschwerdefrist.[199]
[196] Dazu Kopp/Schenke, vor § 124 Rn 8 ff.
[197] Dazu insbesondere: Schmidt, NVwZ 2003, 425, 428; Kraheberger, DÖV 2002, 19 ff.
[198] Kopp/Schenke, vor § 124 Rn 8a; Schmidt, NVwZ 2003, 425, 428.
[199] Einzelheiten sind hier str., vgl. Kraheberger, DÖV 2002, 19, 23; Schmidt, NVwZ 2003, 425, 428.

III. Unstatthaftigkeit einer außerordentlichen Beschwerde seit Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes vom 27.7.2001

 

Rz. 187

Das BVerwG hat dann mit Beschl. v. 5.10.2004[200] aber entschieden, dass für die Befassung des nächsthöheren Gerichts mit außerordentlichen Rechtsbehelfen seit Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes vom 27.7.2001[201] kein Raum mehr sei. Ihm könne die gesetzgeberische Entscheidung entnommen werden, dass eine im Rechtsmittelzug nicht mögliche Nachprüfung einer gerichtlichen Entscheidung aufgrund eines außerordentlichen Rechtsbehelfs demjenigen Gericht vorbehalten bleiben solle, das die Entscheidung erlassen hat. Hierauf, so das BVerwG weiter, ließe vor allem das (damals) neu geschaffene Verfahren zur Rüge von Gehörsverletzungen durch unanfechtbare Urteile der ersten Instanz gem. § 321a ZPO schließen, das die Selbstkontrolle des erstinstanzlichen Gerichts vorsieht. Dieses Verfahren finde gem. § 173 S. 1 VwGO auch für Gehörsrügen gegen verwaltungsgerichtliche Urteile Anwendung.[202]

 

Rz. 188

Spätestens seit der Einführung der Anhörungsrüge durch § 152a VwGO, die auf die Rechtsprechung des BVerfG[203] zurückgeht, soll dies gelten. § 152a VwGO ermöglicht einen eigenständigen außerordentlichen Rechtsbehelf, mit dem allerdings nur ein Anhörungsverstoß gerügt werden kann. Dieser Rechtsbehelf ist subsidiär und kommt erst dann in Frage, wenn der Anhörungsverstoß nicht im Rahmen anderer zur Überprüfung der Entscheidung gegebener Rechtsbehelfe oder Rechtsmittel angegangen werden kann.[204]

 

Rz. 189

Bei anderen Verfahrensverstößen gilt:

Ein Verstoß gegen Art 101 Abs. 1 S. 2 GG (Gebot des gesetzlichen Richters) kann im Wiederaufnahmeverfahren nach § 153 VwGO geltend gemacht werden.[205]
Bei anderen Verfahrensverstößen als dem der Verletzung rechtlichen Gehörs wird eine analoge Anwendung des § 152a VwGO überwiegend abgelehnt.[206]
 

Rz. 190

Darüber hinaus gehende Fälle der "greifbaren Gesetzeswidrigkeit" sollen also nicht mehr mit der oben beschriebenen "außerordentlichen Beschwerde" angegriffen werden können. In Betracht kommt dann nur noch die Verfassungsbeschwerde.[207]

 

Rz. 191

Kritik: Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der vom Gesetzgeber eingeleiteten Tendenz, immer mehr gerichtliche Entscheidungen für unanfechtbar zu erklären, ist die wohl h.M. zur außerordentlichen Beschwerde vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG zu überdenken; die zukünftige Entwicklung bleibt abzuwarten.

Immerhin ist in der Regierungsbegründung zum Anhörungsrüge-Gesetz[208] ausgeführt, dass dieses Gesetz "keine Aussage zu der Frage" trifft, "wie Gerichte künftig mit Verletzungen etwa des Willkürverbots umgehen sollen; insbesondere die bisher in diesen Fällen zur Anwendung gekommenen außerordentlichen Rechtsbehelfe wie die außerordentliche Beschwerde oder die Gegenvorstellung sollen durch die Beschränkung dieses Entwurfs auf eine Erweiterung der Rügemöglichkeiten bei Anhörungsverstößen nicht ausgeschlossen werden." Ausgangspunkt dieses Gesetzes war es nämlich, die Entscheidung des BVerfG v. 30.4.2003[209] umzusetzen. Dem entspreche...

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