Rz. 88

Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, nimmt das Gericht eine Interessenabwägung vor, wobei auch hier die gesetzgeberischen Vorbewertungen in § 80 Abs. 2 S. 1 VwGO beachtlich sind.

aa) Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO

 

Rz. 89

Können die Folgen der Vollziehung nicht oder nur schwer, insbesondere unter unzumutbaren Bedingungen wieder rückgängig gemacht werden, überwiegt in der Regel das Rechtsschutzinteresse des ASt.[127]

 

Rz. 90

Lässt sich hingegen nicht feststellen, dass das individuelle Suspensivinteresse das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt, so hat es bei der gesetzlich angeordneten Vollziehung zu verbleiben.[128]

[127] BVerfG NVwZ 1984, 429. Brühl, JuS 1995, 725.
[128] Brühl, JuS 1995, 725.

bb) Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO

 

Rz. 91

Die aufschiebende Wirkung ist wiederherzustellen, wenn das Vollzugsinteresse nicht hinreichend gewichtig und dringlich ist oder wenn es das vom Gesetzgeber in § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO angeordnete Suspensivinteresse nicht überwiegt. Dabei ist das Suspensivinteresse des Betroffenen umso stärker, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die behördliche Maßnahme Unabänderliches bewirkt.[129]

 

Rz. 92

Gerade bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung der FE ist bei der Beurteilung der Frage, ob das besondere öffentliche Interesse an der Anordnung besteht, in jedem Falle zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber nunmehr in speziellen, von ihm als besonders gefahrenträchtig eingeschätzten Situationen die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs gerade i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO ausgeschlossen hat. So hat er im Rahmen des Punktsystems und im Zusammenhang mit der FE auf Probe in bestimmten Situationen die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs im StVG ausgeschlossen (§ 4 Abs. 9, § 2a Abs. 6 StVG).

 

Rz. 93

Er geht damit also davon aus, dass jedenfalls nicht in jeder Situation fehlender Eignung und Entziehung der FE automatisch auch die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs entfallen soll. Hätte er dies nämlich gewollt, so hätte er dies – genau wie in den zuvor bezeichneten Situationen des § 4 Abs. 9 und § 2a Abs. 6 StVG – i.S.d. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO regeln können. Auch diejenigen, die davon ausgehen, dass die auf mangelnder Eignung beruhende Entziehung der FE regelmäßig ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit indiziert,[130] müssen konstatieren, dass ein Automatismus jedoch nicht besteht.[131]

 

Rz. 94

Darüber hinaus ist schon aus diesem Grund der gesetzgeberischen Wertung die Entziehungsverfügung auch keinesfalls de facto den Maßnahmen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO gleichzusetzen.[132]

 

Rz. 95

An dieser gesetzgeberischen Wertung hat sich die Subsumtion des Tatbestandes des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO zu orientieren. Damit muss im konkreten Fall die konkrete Person ein Gefahrenpotential darstellen, das im öffentlichen Interesse die Anordnung der sofortigen Vollziehung der FE-Entziehung rechtfertigt.[133]

 

Rz. 96

Weitere Rechtsprechung:

BayVGH, Beschl. v. 3.7.2015 – 11 CS 15.1030, juris: FE-Entzug wegen des Führens eines Kfz unter Cannabiseinfluss (§ 11 Abs. 7 FeV); Interessensabwägung zulasten des ASt. bei offenen Erfolgsaussichten des Widerspruchs wegen nunmehr vorgetragener, nicht auszuschließender Abstinenz;
SächsOVG zfs 1994, 392: Erweist sich jemand als ungeeignet zum Führen von Kfz, so muss das nicht nur zur Entziehung der FE, sondern in aller Regel auch dazu führen, dass diese Anordnung für sofort vollziehbar erklärt wird, um den Ungeeigneten unverzüglich von der weiteren Teilnahme am Straßenverkehr auszuschließen.[134]
HessVGH zfs 1993, 359; s.a. VG Saarland zfs 1996, 278: Anordnung der sofortigen Vollziehung der FE-Entziehung bei alsbald behebbarem Eignungsmangel.
HambOVG NZV 1997, 247; DAR 1998, 323, 324 (Fahreignung bei Substituierung mit Methadon);
OVG RP zfs 1996, 478 (Anordnung der sofortigen Vollziehung der FE-Entziehung bei regelmäßigem Cannabiskonsum);
OVG Saarland zfs 1994, 392 (Krampfanfälle und Atemnot);
VGH BW zfs 1995, 37 (Geschwindigkeitsüberschreitung);
VG Saarland zfs 1997, 239, OVG Saarland zfs 1997, 400 (sofortige Vollziehung der FE-Entziehung bei nicht verkehrsrechtlichen Straftaten);
VG Saarland zfs 1994, 271 (kein Vollzugsinteresse bei Vielzahl von Parkverstößen);
VG Meiningen zfs 1995, 40 (Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, wenn Bescheid jede inhaltliche Auseinandersetzung mit der günstigen Prognose eines MPU-Gutachtens vermissen lässt);
VG Hamburg NZV 1998, 392 (Anordnung sofortiger Vollziehung der Entziehung der FE auf Probe bei unterlassener Nachschulung);
VG Oldenburg, Beschl. v. 13.10.1998 – 7 B 2838/98, zfs 1999, 40 (rechtmäßige Anordnung sofortiger Vollziehung einer Fahrtenbuchauflage);
VG Freiburg MittBl. ARGE VerkR 2/1999, S. 53 (rechtswidrige Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung der FE, wobei die Fahrerlaubnisbehörde auf Angaben der Ehefrau abstellt, die als "Racheakt" angab, dass der ASt. "immer noch maßlos trinke"; in Wirklichkeit bestand aber gut ausgeprägte Kontrollfähigke...

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