I. Allgemeines

 

Rz. 371

Soweit innerhalb der EU bzw. des EWR (= Island, Liechtenstein, Norwegen) oder der Schweiz eine grenzüberschreitende Beschäftigung stattfindet, ist stets zu prüfen, ob die Vorschriften der VO (EG) 883/04 und 987/09 über die soziale Sicherheit anzuwenden sind. Diese Vorschriften gehen nach § 6 SGB IV als überstaatliches Recht den nationalen Vorschriften vor. Diese Verordnungen sind durch den Rat der EU – gestützt auf den Vertrag zur Gründung der europäischen Gemeinschaft – erlassen worden. Sie sollen die ebenfalls im EGV niedergelegte Freizügigkeit von Personen bzgl. des Aufenthalts und der Arbeitsaufnahme in Mitgliedstaaten der EU sozial absichern. Art. 42 EGV bestimmt, dass ein Wanderarbeitnehmer, der in verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigt gewesen ist, keine Einbußen erleiden soll. Dies bedeutet, dass ein Wanderarbeitnehmer in Bezug auf die Entstehung eines Leistungsanspruchs, z.B. einer Rente, aus einem Staat bzgl. der Mitgliedszeiten in der Weise behandelt werden muss, dass ihm auch sämtliche in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten, die zu einer Anspruchsbegründung führen können, zugerechnet werden. Dieses Gleichbehandlungsgebot bzw. Diskriminierungsverbot findet sich auch in der Präambel der VO (EG) 883/04 wieder. Ein deutscher Staatsangehöriger, der drei Jahre in Deutschland und zwei Jahre in Frankreich beschäftigt gewesen ist, erfüllt wegen dieses Grundsatzes die 5-jährige (60 Monate) Wartezeit aus § 50 Abs. 1 SGB VI und hat damit einen Anspruch gegen den deutschen Rentenversicherungsträger. Durch diese Vorschriften soll die Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer gefördert und abgesichert werden.

II. Geltungsbereich der VO (EG) 883/04

 

Rz. 372

Die VO (EG) 883/04 hat einen sachlichen, räumlichen und persönlichen Geltungsbereich, der bei jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen ist.

1. Räumlicher Geltungsbereich

 

Rz. 373

Der räumliche Geltungsbereich in der VO (EG) 883/04 kann sich aber nur auf das Gebiet des Mitgliedstaats beschränken, also i.d.R. auf das Hoheitsgebiet. Vom räumlichen Geltungsbereich wird mit Ausnahme der in Anlage I (s. Rdn 451) gezeigten Bereiche das gesamte Hoheitsgebiet der EU-Staaten sowie der EWR-Staaten erfasst.

2. Persönlicher Geltungsbereich

 

Rz. 374

Im Gegensatz zur früher geltenden VO (EGW) 1408/71 ist der persönliche Geltungsbereich erweitert worden. Die EWG-VO 1408/71 war im Grundsatz nur für Arbeitnehmer und Selbstständige anwendbar. Art. 12 der VO (EG) 883/04 regelt nunmehr, dass die VO für alle Staatsangehörige gilt. Von der VO werden mithin nunmehr auch Personen umfasst, die in Sonderversorgungseinrichtungen in der BRD versichert sind. Solche Sonderversorgungseinrichtungen sind u.a. eingerichtet für Architekten, Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, RA, Patentanwälte, Notare, Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Wirtschaftsprüfer. Da der Arbeitnehmerbegriff nicht einheitlich wie in Deutschland ausgelegt wird, ist nach den jeweiligen Regelungen des Mitgliedsstaates zu klären, ob der Beschäftigung als Arbeitnehmer oder als Selbstständiger nachgegangen werden kann. Diese Ermittlung ist wichtig, da i.d.R. in dem Land die Sozialversicherungspflicht besteht, in dem die abhängige Beschäftigung ausgeübt wird. Dies gilt auch bei der Beschäftigung in mehreren Mitgliedsstaaten, hier allerdings mit Einschränkungen.

3. Sachlicher Geltungsbereich

 

Rz. 375

Bezogen auf das deutsche Sozialversicherungsrecht sind folgende Versicherungszweige betroffen:

Rentenversicherung (SGB VI),
Krankenversicherung (SGB V),
Arbeitslosenversicherung (SGB III) und
berufsgenossenschaftliche Unfallversicherung (SGB VII).
 

Rz. 376

Die Deutsche Pflegeversicherung (SGB XI) hat der EuGH den Leistungen der Krankheit zugeordnet, weshalb diese bei der Aufzählung fehlt.[34] Nach Art. 3 VO (EG) 883/04 sind folgende Leistungen abgedeckt:

Leistungen bei Krankheit,
Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellten Leistungen bei Vaterschaft,
Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind,
Leistungen bei Alter,
Leistungen für Hinterbliebene,
Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten,
Sterbegeld,
Leistungen bei Arbeitslosigkeit und
Vorruhestandsleistungen,
Familienleistungen.
 

Rz. 377

Innerhalb der EU sollen die einzelnen mitgliedsstaatlichen Regelungen zu den Sozialversicherungen nicht vereinheitlicht werden. Daher ist es notwendig, die Leistungen in Risikobereiche einzuteilen und anhand des jeweiligen Landesrechts durch den EuGH bestimmen zu lassen, welches Leistungsrecht unter das jeweilige Landesrecht zu subsumieren ist.

 

Rz. 378

Der Begriff der Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft ist nicht nach den Kriterien des nationalen Rechts auszulegen, sondern gemeinschaftsrechtlich zu bestimmen.[35] Zu den Leistungen bei Krankheit gehören teilweise auch diejenigen Leistungen, die auf nationaler Ebene nicht der Krankenversicherung, sondern der Rentenversicherung zugeordnet werden. Der EuGH hat bspw. in der Rechtssache "Jordens – Vosters" Leistungen der medizinischen Rehabilitation sowie der TBC-Hilfe der deutschen Rentenv...

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