Rz. 36

Da die konsequente Abgrenzung nach dem Zeitpunkt des Zuflusses nach Ansicht von Literatur und Rechtsprechung zum Teil zu "willkürlichen bzw. inakzeptablen" Ergebnissen führt,[64] wird nach Feststellung des Zuflusszeitpunkts geprüft, ob das Ergebnis einer Korrektur bedarf, weil es einen vorrangigen, rechtlich anderen, also einen "normativen" Zufluss gibt, der das Ergebnis der Prüfung des tatsächlichen Zuflusses im Sinne eines akzeptablen Ergebnisses modifiziert.[65]

 

Rz. 37

 

Prüfungsablauf: Ist es Einkommen oder Vermögen?

Wann war der Tag der Antragstellung (§ 37 SGB II)?
Wann erfolgte der Zufluss konkret?
Gilt der tatsächliche Zufluss oder wird das Ergebnis durch einen "normativen" Zufluss korrigiert?

Ein "normativer" Zufluss liegt z.B. in der Rechenregel über die Verteilung des Einmaleinkommens gem. § 11 Abs. 3 SGB XII auf einen Verteilzeitraum von sechs Monaten.

[64] So Münder/Geiger, LPK-SGB II, § 11 Rn 14; Arbeitslosenprojekt TuWas (Hrsg.), Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, 380.

aa) Normativer Zufluss bei Anfall einer Erbschaft

 

Rz. 38

Der Anfall einer Erbschaft gehört nach der Rechtsprechung zu den Zuflüssen, bei denen eine "normative" Korrektur wegen § 1922 BGB zu erfolgen hat. Entscheidend für die Abgrenzung von Einkommen und Vermögen einer Erbschaft ist danach lediglich, ob der Erbfall jedenfalls vor der (ersten) Antragstellung eingetreten ist oder danach.[66] Von anderen wurde und wird noch weitergehend differenziert und danach unterschieden, ob es sich um einen Erbfall ohne Beschwerungen und Belastungen ("Vollerbschaft") handelt oder ob z.B. Vorerbschaft/Nacherbschaft oder Testamentsvollstreckung angeordnet wurde.[67]

 

Rz. 39

Liegt der Erbfall nach der Rechtsprechung vor der ersten Antragstellung, so soll das Erlangte Vermögen sein und ein Zufluss aus dieser Erbschaft – auch bei einem realen, bedarfsdeckungsgeeigneten Zufluss im Zeitpunkt nach Antragstellung – soll ein "Versilbern" bereits vorhandenen Vermögens und somit weiterhin als Vermögen zu qualifizieren sein.[68]

Fällt eine Erbschaft erst nach Antragstellung bzw. im ununterbrochenen Leistungsbezug an, so behandelt die Rechtsprechung sie als Einkommen.[69] Das überschneidet sich nun mit der gesetzlichen Neuregelung, die Zuflüsse in Geldeswert generell dem Vermögen zurechnet.

Das führt zu der ersten Frage: Ab wann gilt die Neuregelung, wenn der erbrechtliche Anfall vor dem 1.8.2016 liegt?

 

Rz. 40

 

Fallbeispiel 54: Der "versilberte Nachlass"

Die A bezog seit Anfang 2010 fortlaufend Grundsicherung nach Alg II. Ihre Mutter starb am 30.4.2016. Einziger Nachlassgegenstand war eine Immobilie. Der Veräußerungserlös floss am 15.5.2017 zu. Darf das Jobcenter den Zufluss der "versilberten" Immobilie als Einkommen auf den Bedarf der A anrechnen?

Falllösung Fallbeispiel 54:

Die Antragstellerin stand durchweg im Leistungsbezug. Die Erbschaft ist also "normativ" wie tatsächlich erst nach Antragstellung und damit im Leistungsbezug angefallen. Sie ist deshalb Einkommen (§ 11 SGB II a.F.). Aus der Erbschaft ließen sich bis zum 15.5.2017 für die A keine bedarfsdeckenden "bereiten" Mittel generieren, und deshalb musste bis dahin Grundsicherung als Zuschuss geleistet werden. Am 15.5.2017 erfolgte der tatsächliche Zufluss der aus der Erbschaft verflüssigten Mittel. Für eine Änderung des rechtlichen Charakters vom Einkommen zum Vermögen gibt die Gesetzesänderung nichts her.

Für den Anfall einer Erbschaft nach Antragstellung, aber vor dem 1.8.2016, gilt die alte Rechtslage. Sie wird als Einkommen behandelt. Der "Zufluss" eines ererbten Hauses ist deshalb bis zum 1.8.2016 auch im SGB II als Einkommen zu berücksichtigen.[70] Aus Einkommen wird durch spätere Versilberung kein Vermögen. Bei einmaligen Einnahmen gilt die "normative" Anrechnungsregelung des § 11 Abs. 3 SGB II. Erst nach Ablauf des Verteilzeitraums kann Einkommen zu Vermögen werden.

[66] BSG v. 25.1.2012 – Az.: B 14 AS 101/11 R, NJW 2012, 2911; LSG NRW v. 23.6.2020 – Az.: L 2 AS 1369/19.
[67] Münder/Geiger, LPK-SGB II, § 11 Rn 37; im SGB XII vergleichbar Bieritz-Harder/Conradis/Thie/Geiger, § 90 Rn 10.

bb) Normativer Zufluss bei Anfall eines Anspruchs aufgrund Erbfalls (z.B. Pflichtteil/Vermächtnis)

 

Rz. 41

Die Regeln zum "normativen" Zufluss für Forderungen aus Vermächtnissen oder Pflichtteilsansprüchen, die zwar vor dem Leistungszeitraum angefallen sind, aber erst im Leistungszeitraum in Geld erfüllt werden, wurden von der Rechtsprechung bisher ausdrücklich ausgeschlossen. Erfolgte die Monetarisierung einer solchen Forderung noch vor dem Antragszeitraum, so sei das Geld zwar Vermögen. Erfolge die Monetarisierung/Erfüllung aber erst nach Antragsstellung, so soll nach der normativen Zuflusstheorie i.V.m. der Forderungsrechtsprechu...

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