Rz. 44

 

Fallbeispiel 55: Die Erbin und das Arbeitslosengeld II

Erbfall war der 15.4.2017. Der Antrag auf Arbeitslosengeld II stammt vom 15.8.2020.

Die Tochter T (50 Jahre alt) erhält nach Auflösung der Erbengemeinschaft vom Testamentsvollstrecker am 1.9.2020 4.000 EUR. Das Jobcenter rechnet nach § 11 Abs. 3 SGB II den Zufluss als zu verteilendes Einmaleinkommen an. Richtig?

Alternative 1: Die Miterbin erhielt im Wege der Teilungsanordnung unter Anrechnung auf ihren Erbteil einen Pkw mit einem Wert von 7.000 EUR aus dem Erbfall.

Alternative 2: was wäre, wenn eine Forderung von 4.000 EUR aus einem Pflichtteilsanspruch entstanden gewesen und im Leistungszeitraum erfüllt worden wäre?

Alternative 3: Was wäre, wenn es sich um ein Vermächtnis gehandelt hätte?

(a) Die (Mit-)Erbschaft

 

Rz. 45

Nach alter und neuer Rechtslage werden Einnahmen aus einem Erbfall vor dem Leistungszeitraum mit Zuflüssen daraus im Leistungszeitraum – wie auch heute noch im SGB XII – differenziert betrachtet. Zuflüsse aus Erbschaften – auch, wenn sie in Geld zufließen – werden generell als "Versilbern" von Vermögen und damit weiterhin als Vermögen behandelt.

Falllösung Fallbeispiel 55:

Der Erbfall und damit der Erwerb der Erbenstellung liegt vor dem Antrag auf Arbeitslosengeld II. Nach der modifizierten Zuflusstheorie ist in allen Fällen davon auszugehen, dass die "Miterbschaft" (der Erbanteil) kein Einkommen, sondern Vermögen nach § 12 SGB II ist. Die bedarfsdeckende Anrechnung ererbten Vermögens konnte erst erfolgen, als das Vermögen tatsächlich zur Bedarfsdeckung bereitstand. Seit 1.8.2016 kommt hinzu, dass der Anspruch auf den Erbteil – bzw. der Anspruch auf Erbauseinandersetzung und der Anteil am Erlös – ein Anspruch in Geldeswert und alleine deshalb Vermögen ist. Der Vermögensschonbetrag in Geld beträgt nach § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 i.V.m S. 2 Nr. 3 SGB II maximal 10.050 EUR. Damit darf eine Anrechnung nach § 11 Abs. 3 SGB II nicht erfolgen.

 

Hinweis

Der Referentenentwurf des BMAS zum Elften Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze sieht die Einführung eines § 12a SGB II vor, nachdem für die ersten zwei Jahre ab Beginn des Monats, für den erstmals Leistungen nach dem SGB II bezogen werden, Vermögen nur berücksichtigt wird, wenn es erheblich ist (60.000 EUR für die leistungsberechtigte Person und 30.000 EUR für jede weitere in der Bedarfsgemeinschaft lebende Person).

Falllösung Fallbeispiel 55 – Alternative 1:

Der Anspruch auf den Pkw ist unabhängig vom Datum des Erbfalls von vorneherein eine Einnahme in Geldeswert, denn anders als beim Übernahmerecht ist die Teilungsanordnung ohne andere Vereinbarung mit dem Miterben bindend. Ein Anspruch auf Erfüllung in Geld besteht nicht. Der Pkw ist als angemessen i.S.v. § 12 Abs. 3 SGB II zu behandeln und ist geschont. Eine Anrechnung als Einkommen kommt nicht in Betracht.

(b) Der Pflichtteilsanspruch

 

Rz. 46

Falllösung Fallbeispiel 55 – Alternative 2:

Die sog. "Forderungsrechtsprechung" akzeptierte unter alter Rechtslage zwar den Vermögenscharakter der Pflichtteilsforderung, wenn sie vor dem Leistungszeitraum angefallen war, machte aber vor dem 1.8.2016 aus Pflichtteils- und Vermächtnisansprüchen bei tatsächlichem Zufluss von Geld im Antragszeitraum aus Vermögen Einkommen, weil es auf das Schicksal der Forderung nicht ankomme.[78]

Für die Realisierung von Forderungen will die Kommentarliteratur trotz des geänderten Gesetzeswortlauts an der "Forderungsrechtsprechung" in der Reinform oder modifiziert festhalten. Realisiere sich aus Pflichtteilsansprüchen, die aufgrund eines Erbfalls vor dem Antragszeitraum angefallen sind, erst im Leistungszeitraum Geld, handele es sich wie bei der Erbschaft vor dem Antragszeitraum um Vermögen. Die Erfüllung im Leistungszeitraum mache die Forderung zu Einkommen. Oder jetzt modifiziert: Die Forderung sei Vermögen. Lasse sich die Forderung nicht bedarfsdeckend monetarisieren und sei eine Verwertung prognostisch nicht absehbar, sei eine später im Leistungszeitraum realisierte Forderung als bloße Geldforderung zu behandeln.[79]

 

Rz. 47

Nach diesseitiger Ansicht ist dem nicht so ohne Weiteres zu folgen, denn die Zuflussrechtsprechung hat mangels gesetzlicher Regelung die Regeln des normativen Zuflusses geschaffen, aber der Gesetzgeber hat 2016 entschieden, dass mit geldwerten Einnahmen jetzt anders umzugehen ist. Sie sind per se Vermögen und nach §§ 12, 24 Abs. 5 SGB II solange zu prüfen, wie man zu dem Ergebnis kommt, dass sie entweder Schonvermögen, prognostisch innerhalb von 12 Monaten verwertbar oder im nächsten Leistungszeitraum wieder als Vermögen zu prüfen sind. Zwar kann man darüber nachdenken, ob der Gesetzgeber das Problem von Forderungen gar nicht gesehen hat, wohl aber das Problem ererbter Immobilien. Dann bleibt aber immer noch das Problem der Forderungsrechtsprechung, die m.E. zu Unrecht vor der Antragstellung ererbte Forderungen beim Zufluss im Leistungszeitraum nicht als Vermögen, das schon in der Vermögensbilanz ein vorhandener Aktivwert war, behandelt, sondern als Einkommen. Diese Kritik gilt...

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