Rz. 18

Gemäß § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII wird das Haftungsprivileg der §§ 104, 105 SGB VII erweitert um Schäden, die entstehen, wenn mehrere Versicherte unterschiedlicher Unternehmen vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer sog. gemeinsamen Betriebsstätte ausführen und damit eine gemeinsame Gefahrengemeinschaft bilden. Für die Annahme einer "gemeinsamen Betriebsstätte" reicht das Vorhandensein "derselben" Betriebsstätte noch nicht aus.[44] Eine gemeinsame Betriebsstätte setzt vielmehr Aktivitäten beider Unternehmen voraus, die bewusst und gewollt ineinander greifen, sich ergänzen und unterstützen. Diese Tätigkeiten müssen miteinander verknüpft sein.[45] Hierfür genügt es, dass die Tätigkeiten in der konkreten Unfallsituation gleichzeitig ausgeführt werden und deshalb eine Verständigung über ein bewusstes Nebeneinander im Verfahrensablauf erfolgt.[46] Eine bloße Berührung der Tätigkeiten und das Zusammentreffen mehrerer Risikosphären reichen hingegen zur Annahme einer gemeinsamen Betriebsstätte nicht aus. Es ist weiterhin in der Regel davon auszugehen, dass derjenige, der Aufgaben wahrnimmt, die sowohl in den Aufgabenbereich seines Unternehmens als auch in denjenigen eines fremden Unternehmens fallen, allein zur Förderung der Interessen seines Unternehmens tätig wird. Erst wenn die Tätigkeit nicht mehr als Wahrnehmung einer Aufgabe seines Unternehmens bewertet werden kann, kann ein Versicherungsschutz aufgrund der Zuordnung zu einem fremden Unternehmen gegeben sein. So liegt eine gemeinsame Betriebsstätte beispielsweise vor, wenn der geschädigte Lkw-Fahrer seinen Lkw von einem schädigenden Gabelstaplerfahrer be- oder entladen lässt[47] oder ein anliefernder Lkw-Fahrer mit einem Landwirt beim Entladen von Tieren vom Lkw Hand-in-Hand arbeitet und der Lkw-Fahrer dabei einen Schaden erleidet.[48] Bei dem Beladen eines Lkw mit tonnenschweren Papierrollen mittels eines Gabelstaplers und den absprachegemäßen Tätigkeiten des beteiligten Lkw-Fahrers (u.a. Öffnen der Türen des Aufliegers und Freimachen der Ladefläche) handelt es sich nicht mehr um bloße Vorbereitungshandlungen des Ladevorganges, sondern um arbeitsteilige "Aktivitäten", die bewusst und gewollt bei der Beladung i.S. einer "gemeinsamen Betriebsstätte" ineinandergreifen.[49] Auch liegt eine haftungsprivilegierte gemeinsame Betriebsstätte vor, wenn der Arbeitgeber für die Transporte seiner Arbeitnehmer zur Arbeitsstätte einen Subunternehmer einsetzt und es dabei zu einem Verkehrsunfall kommt.[50]

 

Rz. 19

Muster 5.5: Prüfung der gemeinsamen Betriebsstätte

 

Muster 5.5: Prüfung der gemeinsamen Betriebsstätte

Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung erfasst der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte über die Fälle der Arbeitsgemeinschaft hinaus betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt (BGH VersR 2004, 604). Die Beurteilung, ob in einer Unfallsituation eine "gemeinsame Betriebsstätte" vorlag, muss sich auf konkrete Arbeitsvorgänge beziehen (BGH, Urt. v. 1.2.2011 – VI ZR 227/09 – juris). Es kommt darauf an, dass in der konkreten Unfallsituation eine gewisse Verbindung der Tätigkeiten als solche, die sich als bewusstes Miteinander im Betriebsablauf darstellen und im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet sind, gegeben ist (BGH, Urt. v. 11.10.2011 – VI ZR 248/10 – juris).

[45] BGH zfs 2013, 381.
[48] OLG Oldenburg VRS 129, 1–4.
[50] OLG München r+s 2012, 257.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge