Rz. 8

Ein prägender Grundsatz der Ermittlung von Nachlassbestand und Nachlasswert ist das Stichtagsprinzip. Denn der Nachlassbestand ergibt sich aus der Differenz der Aktiva und Passiva bezogen auf den Bewertungsstichtag. Maßgeblich für die erforderliche Feststellung beider ist grundsätzlich der Zeitpunkt des Erbfalls (§ 2311 Abs. 1 S. 1 BGB), d.h. der Zeitpunkt des Todes des Erblassers, bei Verschollenheit der des § 9 VerschG.[13]

 

Rz. 9

Aus der Stichtagsbezogenheit der Bewertung muss zwar nicht zwingend auf einen einheitlichen Bewertungszeitpunkt geschlossen werden.[14] Jedoch kann im Pflichtteilsrecht nicht die Auffassung übernommen werden, wie sie im Rahmen der Inventarerrichtung nach den §§ 1993 ff. BGB vertreten wird. Dort ist nach h.M. für die Erfassung der Aktiva auf den Erbfall abzustellen, für die Passiva aber auf den Zeitpunkt der Inventarerrichtung.[15] Dies geschieht dort nur, um wegen der Stichtagsbezogenheit der Inventarerrichtung die Nachlassverbindlichkeiten in tatsächlicher, aktueller Höhe zu berücksichtigen.

Hierfür besteht im Pflichtteilsrecht keine Notwendigkeit.[16] Wertveränderungen nach dem Stichtag dürfen nicht berücksichtigt werden; auf die Höhe des Pflichtteilsanspruchs haben sie keinen Einfluss.[17]

 

Rz. 10

Aus dem Stichtagsprinzip folgt nicht zwingend, dass zukünftige Entwicklungen gar nicht berücksichtigt werden dürfen. Wertbeeinflussende Faktoren, die am Stichtag bereits im Keim angelegt waren, sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt auf den Wert des betroffenen Gegenstandes auswirken, sind zu berücksichtigen (Wurzeltheorie).[18] Mithin bezieht sich das Stichtagsprinzip nicht auf den Wert des jeweiligen Nachlassgegenstands als solchen. Vielmehr geht es hier um die der Bewertung zugrunde zu legenden Faktoren,[19] die stets (und ausschließlich) aus der Stichtagsperspektive bestimmt und beurteilt werden müssen.[20] Zukunftserwartungen, die zum Stichtag bereits "greifbar", aber im Normalverkaufspreis noch nicht abgebildet sind, müssen daher in die Bewertung einfließen.[21]

 

Rz. 11

Im Übrigen kann das starre Stichtagsprinzip auch zu erheblichen Härten führen.[22] Das gilt z.B. bei Zerstörung von Nachlassgegenständen durch höhere Gewalt. Das Risiko der Wertminderung nach dem Erbfall liegt aber von Gesetzes wegen allein beim Erben.[23] Selbst wenn Nachlassgegenstände nach dem Erbfall gestohlen oder durch höhere Gewalt zerstört werden, fließt ihr Wert daher in die Bemessung des Pflichtteils ein. Andererseits können diese Gegenstände aber für die Bezahlung des Pflichtteils nicht mehr verwertet werden.

 

Rz. 12

Nach der Rechtsprechung[24] kann die hieraus resultierende Liquiditätsbelastung (nur) in Extremfällen über § 242 BGB vermieden und das gesetzlich vorgesehene Ergebnis korrigiert werden.[25] Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass es mit dem Sinn und Zweck des Pflichtteilsrechts eigentlich nicht vereinbar ist, in Fällen der hier diskutierten Art ("höhere Gewalt", extremen Kursverlusten infolge eines Börsencrashs) keine Anpassungen vorzunehmen.[26] Denn wäre der Pflichtteilsberechtigte selbst Erbe geworden, hätte ihn aller Wahrscheinlichkeit nach derselbe Verlust getroffen.[27] Ein weitergehender Ausgleich für seine enttäuschte Erberwartung ist also nicht gerechtfertigt, so dass dem Erben in solchen Fällen – unter Durchbrechung des Stichtagsprinzips – das Argument der Unausweichlichkeit der Wertminderung zuzubilligen ist.[28]

Im Rahmen des Leistungsverweigerungsrechts gegen Pflichtteilsergänzungsansprüche (§ 2328 BGB) berücksichtigt die Rechtsprechung bereits nach dem Erbfall eingetretene Wertminderungen zugunsten des Pflichtteilsschuldners (siehe § 7 Rdn 240 ff.).

[13] Damrau/Tanck/Riedel, § 2311 Rn 3.
[14] Meincke, Nachlassbewertung, S. 212.
[15] BGH v. 10.2.1960 – V ZR 39/58, BGHZ 32, 60, 65 = NJW 1960, 960; Staudinger/Marotzke (1995), § 2001 Rn 3; MüKo-BGB/Küpper, § 2001 Rn 3.
[16] Meincke, Nachlassbewertung, S. 213; Staudinger/Herzog, § 2311 Rn 4.
[17] BGH v. 22.11.1951 – IV ZR 37/51, BGHZ 3, 394, 396; BGH v. 23.11.1962 – V ZR 148/60, JZ 1963, 320; BGH v. 31.5.1965 – III ZR 214/63, NJW 1965, 1589, 1590; BGH v. 14.7.1952 – IV ZR 74/52, BGHZ 7, 134, 138; vgl. auch BVerfG v. 26.4.1988 – 2 BvL 13/86; 2 BvL 14/86, NJW 1988, 2723, 2724; Soergel/Dieckmann, § 2311 Rn 2; MüKo-BGB/Lange, § 2311 Rn 21; Staudinger/Herzog, § 2311 Rn 98 m.w.N.; a.A. Braga, AcP 153 (1954), 144, 164 f.; BGH v. 13.5.2015 – IV ZR 138/14, ZEV 2015, 482 mit ablehnender Anm. Lange.
[18] BGH v.17.1.1973 – IV ZR 142/70, NJW 1973, 509; Damrau/Tanck/Riedel, § 2311 Rn 3; Großfeld, Unternehmensbewertung, Rn 243; Haegele, BWNotZ 1976, 25, 26; Staudinger/Herzog, § 2311 Rn 100; MAHB/Horn, § 29 Rn 184.
[19] Damrau/Tanck/Riedel, § 2311 Rn 3.
[20] BVerfG v. 26.4.1988 – 2 BvL 13/86; 2 BvL 14/86, NJW 1988, 2723, 2724; Meincke, Nachlassbewertung, S. 214; J. Mayer, ZEV 1994, 331, 336; MüKo-BGB/Lange, § 2311 Rn 2, 21; Staudinger/Herzog, § 2311 Rn 100 m.w.N.
[21] Meincke, Nachlassbewertung, S. 215; Soergel/Dieckmann, § 2311 Rn 17; BGH v. 2...

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