Rz. 329

Mit § 11 Abs. 5 S. 1 AÜG hat der Gesetzgeber erstmalig ausdrückliche Vorschriften zur Ausgestaltung von Arbeitskampfmaßnahmen normiert. Sogar das Tarifautonomiestärkungsgesetz[738] enthielt für den Bereich der Tarifkollision keine entsprechenden Vorschriften, obwohl der Arbeitskampf von Spartengewerkschaften in Betrieben der Daseinsvorsorge nahezu einhellig als Problem angesehen wurde.[739] Es ist nicht verwunderlich, dass eine solche Normierung verfassungsrechtliche Fragen aufwirft.

 

Rz. 330

Bereits die alte Fassung, die sich auf ein Leistungsverweigerungsrecht der Leiharbeitnehmer beschränkte, war nicht unumstritten.[740] Immerhin wurde der von einem Streik betroffene Entleiher in seinen Reaktionsmöglichkeiten auf einen Arbeitskampf beschränkt. Vielfach stellt es sich aber für einen Arbeitgeber als wirksame und im Grundsatz legitime Strategie gegen einen Streik der Gewerkschaft dar, den Betrieb mit anderem Personal aufrecht zu erhalten.

 

Rz. 331

Das Einsatzverbot für Leiharbeitnehmer in bestreikten Betrieben geht jedoch in mehrerlei Hinsicht erheblich über ein bloßes Leistungsverweigerungsrecht hinaus. Konnte der Entleiher zuvor Leiharbeitnehmer einsetzen und das Risiko einer Leistungsverweigerung eingehen, darf er unter Androhung von erheblichem Bußgeld Leiharbeitnehmer nicht mehr einsetzen und bleibt im Ergebnis zur Leistung der Überlassungsvergütung verpflichtet. Dies ist im Hinblick auf die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit des Entleihers nicht unproblematisch. Gleichwohl sieht das BVerfG im Einsatzverbot einen verhältnismäßigen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützten Freiheiten des Entleihers.[741]

Zusätzlich werden jedoch auch die Möglichkeiten des Verleihers, seine Arbeitnehmer frei einzusetzen, beschränkt. Nicht zuletzt sind auch die Freiheiten des Leiharbeitnehmers betroffen. So wird durch das Einsatzverbot nicht nur sein aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG folgender Beschäftigungsanspruch eingeschränkt. Zudem kommt es zu einer Art "Zwangssolidarisierung",[742] da dem Leiharbeitnehmer nunmehr kein Wahlrecht mehr zusteht, ob er den Streik unterstützen möchte oder nicht. Dies begegnet auch im Hinblick auf die (negative) Koalitionsfreiheit Bedenken.

[738] Gesetz v. 11.8.2014, BGBl I, 1348.
[739] Bayreuther, NZA 2013, 704 mit zahlreichen Nachweisen.
[740] Siehe etwa ErfK/Wank, § 11 AÜG, Rn 21.
[742] Thüsing, NZA 2014, 10, 11.

1. Freiheit der Wahl der Arbeitskampfmittel – Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Entleiher

 

Rz. 332

Im Ausgangspunkt obliegt es den Parteien eines Arbeitskampfes, ihre Kampfmittel und Reaktionen hierauf frei zu wählen.[743] So sind in der Vergangenheit von der Rechtsprechung auch ungewöhnliche Maßnahmen wie Flashmobs,[744] die mit den klassischen Arbeitskampfmitteln Streik und (Abwehr-)Aussperrung nur wenig gemein haben, als zulässige von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Arbeitskampfmaßnahme eingeordnet worden. Das BAG erkennt auch ausdrücklich an, dass der Einsatz von arbeitswilligen Arbeitnehmern als "Streikbrecher" durch den Arbeitgeber eine zulässige Reaktion auf einen Streik ist.[745] Dies zeigt letztlich auch, dass nicht nur Arbeitskampfmaßnahmen der Gewerkschaften, sondern auch Arbeitskampfmaßnahmen der Arbeitgeber – jedenfalls soweit es sich um Abwehrmaßnahmen handelt – verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt sind.[746] Immerhin geht es bei einem Einsatz von "Streikbrechern" nicht um eine aktive – auf eine Ausweitung des Kampfgebietes gerichtete – Maßnahme, sondern es sollen lediglich die Auswirkungen des Streiks eingedämmt werden. Dass sich Arbeitgeber in der Vergangenheit nicht nur eigener arbeitswilliger Arbeitnehmer bedienten, sondern auch auf bereits entliehene oder neue Leiharbeitnehmer zurückgriffen, mag man politisch bekämpfen wollen, untersteht jedoch im Ausgangspunkt verfassungsrechtlichem Schutz. Das BAG hat gerade in den letzten Jahren deutlich zu erkennen gegeben, dass sich der Arbeitskampf nicht auf die Personen beschränken muss, die unmittelbar von dem angestrebten Tarifvertrag profitieren.[747] So sind nach der Rechtsprechung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit sowohl Unterstützungsstreiks[748] als auch Flashmob-Aktionen[749] von am Tarifgeschehen Unbeteiligten zulässig.

 

Rz. 333

Wenn der Gesetzgeber eine geschützte und effektive Abwehrstrategie der Arbeitgeber durch ein Verbot gezielt einschränkt, bedeutet dies, dass unmittelbar der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit der Entleiher durch das Einsatzverbot von Leiharbeitnehmer betroffen ist. Wenn das BVerG in seiner Entscheidung vom 19.6.2020 indes ausdrücklich offenlässt, ob der Einsatz von Leiharbeitskräften als "Streikbrecher" als Mittel im Arbeitskampf von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird,[750] kann dies allein darin begründet sein, dass es bei der weiteren Prüfung von einem jedenfalls verhältnismäßigen Eingriff die Koalitionsfreiheit ausgeht und es insoweit keiner Prüfung bedurfte.[751] Immerhin betont auch das BVerfG in seiner Entscheidung, dass die Wahl der Arbeitskampfmittel den Tarifvertragsparteien selb...

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