Rz. 22

Ein Diagnosefehler liegt dann vor, wenn erhobene medizinische Befunde vom Arzt fehlinterpretiert werden. Eine Fehlinterpretation erhobener medizinischer Befunde als Behandlungsfehler wertet die Rechtsprechung zurückhaltend.[102] Solange ein Irrtum in Form einer objektiv gesehen falschen Diagnose noch begründbar, noch nachvollziehbar ist, liegt danach kein vorwerfbarer Behandlungsfehler vor.[103] Eine nicht mehr vertretbare Diagnose ist als "einfacher" Behandlungsfehler, eine unverständliche, schlechterdings nicht mehr nachvollziehbare Diagnose ist als "grober" Behandlungsfehler zu werten.[104]

Weniger zurückhaltend ist die Rechtsprechung in den Fällen, in denen eine medizinisch gebotene Befunderhebung/Verlaufskontrolle unterlassen wird und aufgrund dessen medizinisch zwingend gebotene Therapiemaßnahmen nicht ergriffen werden konnten.[105] Anknüpfungspunkt ist die Unterlassung einer gebotenen Befunderhebung:[106] Die Befunderhebung muss medizinisch zweifelsfrei geboten gewesen sein,[107] bei deren tatsächlicher Durchführung ein reaktionsbedürftiges Befundergebnis hinreichend wahrscheinlich vorgelegen hätte und ein Nichtreagieren auf diesem Befund schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar wäre.[108] Wegen der erheblichen beweisrechtlichen Konsequenzen ist eine Differenzierung zwischen einem Diagnosefehler und einem Befunderhebungsfehler von erheblicher Bedeutung: Ein Diagnosefehler liegt vor, wenn aufgrund der falschen Interpretation von Befunden aus berufsfachlicher Sicht eines Facharztes gebotene therapeutische oder diagnostische Maßnahmen nicht ergriffen werden.[109] Demgegenüber liegt ein Befunderhebungsfehler vor, wenn die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin hat, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat.[110] Zwischen der unterlassenen, medizinischen Befunderhebung, der dadurch unterlassenen, d.h. nicht durchgeführten bzw. nicht aufgenommenen Therapiemaßnahme und dem späteren Gesundheitsschaden muss ein nicht gänzlich unwahrscheinlicher Kausalzusammenhang bestehen.[111] Dabei reicht eine generelle Geeignetheit der schuldhaft unterlassenen Befunderhebung. Es darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein, dass der Behandlungsfehler als solcher Ursache für den späteren Gesundheitsschaden ist.[112]

[102] Rehborn, MDR 1999, 1169 ff. und MDR 2002, 1281 f.; zahlreiche Rspr.-Nachw. bei: Geiß/Greiner, B Rn 55; Pauge, S. 69 ff.; Martis/Winkhart, B 96, 97; OLG Schleswig GesR 2004, 178; BGH GesR 2007, 233; OLG Koblenz VersR 2013, 1049; OLG Dresden v. 21.4.2020 – 4 U 1346/19; LG Flensburg v. 2.8.2019 – 3 O 198/15.
[103] Z.B. OLG Stuttgart OLGR 2002, 251 ff.; BGH NJW 1992, 2962; BGH NJW 1988, 1513; BGH NJW 1981, 2360; OLG Düsseldorf VersR 1987, 994 (LS); OLG Hamm VersR 2000, 101 – NA-BGH; BGH GesR 2003, 352; OLG Köln GesR 2006, 128.
[104] OLG Hamm VersR 2002, 315; 2002, 578 f. m. Hinw. auf BGH NJW 1996, 1589 f.
[105] Z.B. OLG Oldenburg VersR 1991, 1141; mit vielen weiteren Bsp.; BGH GesR 2004, 293; OLG Hamm GesR 2005, 70; BGH v. 26.5.2020 – VI ZR 213/19; Geiß/Greiner, B Rn 65; Martis/Winkhart, B 98, 99; Pauge, S. 259 ff.
[107] OLG Saarbrücken MedR 1999, 272 f.; OLG Brandenburg NJW-RR 1999, 967; OLG Köln VersR 1999, 492; OLG Celle VersR 2002, 1558 ff.; Geiß/Greiner, B Rn 266; § 630h Abs. 5 S. 2 BGB.
[108] OLG Naumburg GesR 2010, 139, 140: Maßgeblich für die Fehlinterpretation ist darüber hinaus die Befundlage ex ante; BGH GesR 2014, 16.
[111] BGH VersR 1994, 490; vgl. ferner Pauge, m.w.N., S. 259 ff.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge