Rz. 87

Seit jeher ist es so, dass zwischen den Parteien eines Arzthaftungsprozesses ein Ungleichgewicht herrscht. Der klagende Patient steht dem zugrunde liegenden medizinischen Sachverhalt als Laie gegenüber und sieht sich somit nicht unerheblichen Problemen bereits in der Darstellung des Sachverhalts ausgesetzt. Dieser Situation hat die Rechtsprechung bereits vor langer Zeit Rechnung getragen. BVerfG[236] und BGH[237] vertreten in ständiger Rechtsprechung zur Beweislage im Arthaftungsprozess die Auffassung, dass an die Darlegungen des Patienten zu medizinischen Fragestellungen nur maßvolle Anforderungen zu stellen und Lücken im Vortrag des Patienten von Amts wegen zu ermitteln sind.[238]

Die geringeren Substantiierungspflichten haben Auswirkungen auf den Streitgegenstand im Arzthaftungsprozess und somit auf die Rechtskraft gem. § 322 Abs. 1 ZPO. Der Streitgegenstand ist im Zivilprozess u.a. maßgeblich für den Umfang der materiellen Rechtskraft nach § 322 Abs. 1 ZPO. Sofern über einen Streitgegenstand bereits rechtskräftig entschieden worden ist, steht der Erhebung einer erneuten Klage betreffend denselben Streitgegenstand die materielle Rechtskraft entgegen. Bei Identität der Streitgegenstände ist die materielle Rechtskraft negative Prozessvoraussetzung im nachfolgenden Prozess, d.h. sie verbietet nicht nur eine vom ersten Urteil abweichende Entscheidung, sie macht die Klage bereits unzulässig.[239]

Nach der bisherigen Rechtsprechung[240] ist der gesamte Behandlungszeitraum in Rechtskraft erwachsen, gleichgültig, ob einzelne Aspekte der Behandlung gerügt wurden oder nicht. Der Streitgegenstand konnte also nicht beschränkt werden. Nach jüngerer Rechtsprechung[241] wurde erstmalig in der Berufungsinstanz ein anderes ärztliches Vorgehen als Behandlungsfehler gerügt als in der ersten Instanz. Dieser Vortrag soll als präkludiert gelten und nicht der erneuten Überprüfung durch einen Sachverständigen gestellt werden. Dies hätte zur Konsequenz, dass nicht der gesamte Behandlungszeitraum in die Überprüfung des Gerichts gestellt würde. Ob sich aus dieser Entscheidung des BGH etwas anderes für den Streitgegenstand respektive die Rechtskraft ergeben wird, ist ungewiss, so dass zunächst davon auszugehen ist, dass der gesamte Behandlungszeitraum der Überprüfung durch den Sachverständigen unterzogen wird und somit dieser auch gänzlich in Rechtskraft erwächst.

[236] BVerfGE 52, 131.
[237] BGH NJW 1982, 1335.
[238] BGH v. 1.3.2016 – VI ZR 49/15, MedR 2016, 796, 797; BGH GesR 2004, 374; BGH VersR 1981, 752; OLG Naumburg MedR 2014, 174, 175; OLG Hamm AHRS 6050/18; LG Siegen v. 7.5.2019 – 2 OH 2/19: Amtsermittlungsgrundsatz gilt nicht im selbstständigen Beweisverfahren; Gehrlein, E Rn 1 ff.; Geiß/Greiner, E Rn 2; Katzenmeier, S. 383 f.; Jorzig, Der Amtsermittlungsgrundsatz im Arzthaftungsprozess, S. 92 ff.
[239] BGHZ 93, 287; BGHZ 123, 30, 34.
[240] OLG Hamm OLGR 1999, 357; OLG Saarbrücken MDR 2000, 1317.
[241] BGH GesR 2004, 374.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge