Rz. 53

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gebietet der Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes, die Höhe des dem Geschädigten zustehenden Anspruchs aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen (BGH zfs 2006, 381 ff.). Damit geht es also um die Bemessung möglicher Verletzungsfolgen, die zum Beurteilungszeitpunkt zwar noch nicht eingetreten sind, deren Eintritt aber objektiv vorhersehbar erscheint, mit denen also gerechnet werden muss, obgleich sich die Folgen im Einzelfall auch nie realisieren müssen. In die Regulierung einzubeziehen ist also die theoretische Möglichkeit des Eintritts weiterer gesundheitlicher Verschlechterungen, auch dann, wenn ihr Eintritt im konkreten Fall unwahrscheinlich ist.

 

Rz. 54

Verletzungsfolgen, deren Eintritt medizinisch objektiv nicht vorhersehbar ist, sind also solche, mit denen nicht oder nicht ernstlich gerechnet werden muss. Ob Verletzungsfolgen im Zeitpunkt der Zuerkennung eines Schmerzensgeldes erkennbar sind, beurteilt sich nicht nach der subjektiven Sicht der Parteien oder der Vollständigkeit der Erfassung des Streitstoffes durch das Gericht, sondern nach objektiven Gesichtspunkten, d.h. nach den Kenntnissen und Erfahrungen eines insoweit Sachkundigen (BGH zfs 2006, 382). Mithin ist nicht nur jede naheliegende Verletzungsfolge, sondern auch diejenige, die aus Sicht des (Fach-)Arztes objektiv vorhersehbar ist, mit in die Bemessung des Schmerzensgeldes einzubeziehen, unabhängig davon, ob sie sich jemals realisieren wird.

 

Praxistipp

Das bedeutet im Klartext, dass bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht nur die Ausgangsverletzungen und die Dauerfolgen maßgeblich sind, sondern auch Spätfolgen bereits bei der Regulierung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen sind, unabhängig davon, ob sie jemals eintreten oder nicht.

 

Praxistipp

Bei der Bezifferung des Schmerzensgeldes sollte man "von hinten" anfangen. Objektiv denkbare Spätfolgen, die typischerweise mit den erlittenen Ausgangsverletzungen korrespondieren, bilden den Maßstab bei der Höhe des Schmerzensgeldes! So ist also bei einer bloßen Fraktur immer die Arthrose als objektiv vorhersehbare Folge bei der Regulierung in den Vordergrund zu stellen. Dieses führt dazu, dass die Schmerzensgeldsumme erheblich ansteigt.

 

Praxistipp

Der Geschädigtenvertreter sollte über den Haftpflichtversicherer Einfluss auf das oftmals in Auftrag gegebene Abschlussgutachten nehmen. Er sollte gezielt dem Versicherer aufgeben, dem Arzt die folgende Frage zu stellen:

"Welche gesundheitlichen Folgenschäden sind vorhersehbar, obgleich sie sich zum heutigen Zeitpunkt noch nicht realisiert haben?"

 

Praxistipp

Im Regulierungsgespräch ist es vorteilhaft, wenn der Anwalt sich mit den möglichen Folgeschäden der Ausgangsverletzungen im Vorfeld dezidiert beschäftigt hat. Wertvolle Hinweise liefert in diesem Zusammenhang der behandelnde Arzt des Mandanten, der durchaus unabhängig von einer Abschlussbegutachtung befragt werden kann. Im Übrigen wird auf die weiteren Ausführungen in diesem Buch verwiesen (siehe § 12 Rdn 22 ff.); dort sind den häufigsten Schadensbildern die objektiv vorhersehbaren gesundheitlichen Folgeschäden zugeordnet.

 

Rz. 55

In der Entscheidung des Thüringischen OLG v. 9.8.2006 (zfs 2007, 27 ff.) war eine verhältnismäßig geringfügige physische Ausgangsverletzung gegeben, nämlich ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule mit weiteren geringfügigen physischen Beschwerden. In diesem Fall wurden die Folgeschäden, die in einer Somatisierungsstörung lagen, als medizinisch vorhersehbar eingestuft. Vom OLG wird ausgeführt, dass infolge eines von einem Betroffenen erlittenen Traumas sich eine psychische Erkrankung dergestalt entwickeln könne, dass Beschwerden in einer krankhaften Weise wahrgenommen werden. Das liege so nahe, dass dies selbst für medizinische Laien voraussehbar sei. Damit wurden die psychischen Folgen einer geringfügigen physischen Ausgangsverletzung dem Risikobereich des Geschädigten zugeordnet (Thüringisches OLG zfs 2007, 28).

 

Praxistipp

Bei physischen Ausgangsverletzungen, die in physische Dauerschäden übergehen, sollte der Anwalt immer daran denken, den behandelnden Arzt nach der Vorhersehbarkeit psychischer Folgen aufgrund der physischen Ausgangsverletzungen zu befragen. Da nach der Rechtsprechung die bloße objektive Vorhersehbarkeit ausreichend ist, wird in der Regel jeder Arzt, der auf diese Rechtsprechung hingewiesen wird, die Möglichkeit einer psychischen Folgeerkrankung aufgrund des stattgefundenen Unfalls attestieren. Somit fließt diese Spätfolge bereits zu einem frühen Zeitpunkt in die Bemessung des Schmerzensgeldes ein und erhöht dieses bereits von Anfang an.

 

Rz. 56

Faktisch taucht auch das Problem auf, dass es mit größerem Zeitablauf immer schwieriger wird, behauptete Spätfolgen (soweit sie nicht objektiv vorhersehbar waren) kausal dem stattgefundenen Unfallereignis zuzurechnen. Insoweit...

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