I. Grundsätze für die Zusammenarbeit und für die Behandlung der Betriebsangehörigen

1. Verhandeln mit Willen zur Einigung

 

Rz. 818

§ 74 Abs. 1 BetrVG konkretisiert die in § 2 Abs. 1 BetrVG geregelte Pflicht zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Arbeitgeber und Betriebsrat sollen mindestens einmal im Monat zu einer Besprechung zusammentreten. Gemeint ist das gesamte Gremium, eine generelle Übertragung auf Ausschüsse ist nicht zulässig (a.A. BAG v. 15.8.2012 – 7 ABR 16/11, juris; hierbei wird das Bedürfnis der "einfachen" Betriebsratsmitglieder nach ausreichender Information aber nicht ausreichend berücksichtigt). § 74 Abs. 1 S. 2 BetrVG hat mit der Aufgabe, über strittige Fragen "mit dem Willen zur Einigung" zu verhandeln, Appellcharakter. Ein Anspruch auf das Erzielen einer Einigung ist damit nicht verbunden.

2. Maßnahmen des Arbeitskampfs

 

Rz. 819

§ 74 Abs. 2 BetrVG verbietet zunächst für Arbeitgeber und Betriebsrat Maßnahmen des Arbeitskampfes. Maßnahmen in der Funktion als möglicher Tarifpartner oder als Mitglied des Arbeitgeberverbandes sind hiervon ebenso wenig betroffen wie Maßnahmen einzelner Arbeitnehmer. Soweit Betriebsratsmitglieder sich an Arbeitskämpfen beteiligen, sind sie jedoch gehalten, Hinweise auf ihre Funktion als Betriebsratsmitglieder zu unterlassen. Der Betriebsrat als solcher hat sich während des Arbeitskampfes neutral zu verhalten. Mitbestimmungsrechte, die zu einer Beeinträchtigung des Arbeitskampfes im umkämpften Betrieb führen können, sind während des Arbeitskampfes eingeschränkt. So hat der Betriebsrat etwa kein Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG, wenn der Arbeitgeber im bestreikten Betrieb Ersatzeinstellungen vornimmt (vgl. zum Ganzen etwa Richardi/Maschmann, § 74 Rn 32 ff.).

3. Arbeitsablauf und Betriebsfrieden

 

Rz. 820

§ 74 Abs. 2 S. 2 BetrVG statuiert eine besondere Pflicht für die Betriebspartner, Betätigungen zu unterlassen, die den Arbeitsablauf oder den Betriebsfrieden stören. Diese allgemeine Pflicht kann unter Umständen bei der Ausübung von Mitbestimmungsrechten oder betriebsverfassungsrechtlichen Streitigkeiten zur Rücksichtnahme verpflichten und zur Pflicht, den Betriebspartner nicht in unsachlicher Weise in der betrieblichen Öffentlichkeit anzugreifen oder bloßzustellen. Darüber hinaus haben die Betriebspartner auch jede parteipolitische Betätigung zu unterlassen; Aktivitäten tarifpolitischer und sozialpolitischer Art sind jedoch ausdrücklich gestattet, soweit sie den Betrieb oder die Arbeitnehmer unmittelbar betreffen (§ 74 Abs. 2 S. 3 BetrVG). Auch Aktivitäten, die in der Funktion als Gewerkschaftsmitglieder veranstaltet werden, sind ausdrücklich gestattet (§ 74 Abs. 3 BetrVG).

4. Gleichbehandlungspflicht

 

Rz. 821

Nach § 75 BetrVG haben Arbeitgeber und Betriebsrat darüber zu wachen, dass alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden, insb. dass Benachteiligungen unterbleiben. Diese Vorschrift konkretisiert den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz. Ihre Verletzung kann dazu führen, dass Betriebsvereinbarungen – ggf. in Teilen – unwirksam sind oder dass Ansprüche von Arbeitnehmern entgegen den betrieblichen Ausgrenzungen bestehen (vgl. BAG v. 3.12.2008 – 5 AZR 74/08, juris, für unternehmensweite Lohnerhöhungen; BAG v. 20.1.2009 – 1 AZR 740/07, juris, BAG v. 16.12.2021 – 8 AZR 303/20, juris, für Abfindungsansprüche in Sozialplänen).

 

Rz. 822

Ansprüche können unmittelbar auf diesen "betriebsverfassungsrechtlichen" Gleichbehandlungsgrundsatz gestützt werden und zwar auch dann, wenn der "arbeitsrechtliche" Gleichbehandlungsgrundsatz keinen Anspruch deswegen gibt, weil letzterer grundsätzlich nur bei einer einseitig gestaltenden Entscheidung des Arbeitgebers gegeben ist – nicht aber bei einem bloßen Normvollzug, selbst wenn der Arbeitgeber fälschlicherweise nur annimmt, dass er eine Norm zu vollziehen hat, weil er dann kein eigenes Regelungswerk, keine eigene Ordnung schafft (BAG v. 16.10.2014 – 6 ABR 661/12, juris; BAG v. 12.12.2012 – 10 AZR 718/11, juris). Die Rechtsgrundlage für diesen auf den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gestützten Rechtsanspruch ergibt sich dann aus der Betriebsvereinbarung i.V.m. § 75 Abs. 1 BetrVG (BAG v. 26.4.2016 – 1 AZR 435/14, juris, für eine Betriebsvereinbarung, die ohne ausreichenden Sachgrund beim Weihnachtsgeld zwischen Fernfahrern und anderen Angestellten differenziert; BAG v. 13.4.2016 – 4 ABR 8/14, juris, für eine Betriebsvereinbarung über einen Transfersozialplan, in dem die Differenzierung des Tarifvertrages übernommen wurde, dass Gewerkschaftsmitglieder, die an einem Stichtag schon Mitglieder waren, besser behandelt wurden, was § 75 Abs. 1 BetrVG nicht verletzt).

II. Verhältnis der Mitbestimmung des Betriebsrats zu Individualrechten der Arbeitnehmer

1. Mitbestimmungsrecht und Arbeitnehmerrechte

 

Rz. 823

Das BetrVG regelt – die systematisch nicht ganz passenden Arbeitnehmerrechte auf Unterrichtung und Einsicht in die Personalakte ausgenommen (§§ 81 ff. BetrVG) – neben den formalen Bedingungen für Betriebsratswahl und -organisation das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Für die Frage, wie sich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat getroffene Regelungen im Verhältnis zum Arbeitnehmer auswirken, finden sich außer § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG nur wenige Regelungen; dasselb...

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