Rz. 306

Die nach § 169 GVG gewährleistete Öffentlichkeit der mündlichen Hauptverhandlung vor dem Strafgericht stellt eine grundlegende Einrichtung des Rechtsstaates dar, weil durch sie sichergestellt wird, dass Justizverfahren der Kontrolle der Allgemeinheit unterliegen und sich die Bevölkerung über das geltende Rechtswesen informieren kann. Dennoch gibt es eine Reihe von Gründen, die zum Ausschluss der Öffentlichkeit führen oder diesen zumindest ermöglichen.[144]

 

Rz. 307

Zwingende Ausschlussgründe sind angezeigt bei:

Verfahren gegen Jugendliche, § 48 JGG;
Verfahren mit Offenlegung von Umständen aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten, deren Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen würde und die nicht durch das Interesse an der öffentlichen Erörterung überwogen wird; notwendig ist aber ein entsprechender Antrag des Betroffenen, § 171b Abs. 1, Abs. 3 GVG;
Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Straftaten gegen das Leben, wegen der Misshandlung von Schutzbefohlenen, soweit ein Zeuge unter 18 Jahren vernommen werden soll und ein entsprechender Antrag des Betroffenen vorliegt, § 171b Abs. 2, Abs. 3 GVG.

Nicht zwingende Ausschlussgründe liegen vor bei:

Verfahren, die eine Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in eine Entziehungsanstalt zum Gegenstand haben, § 171a GVG;
Verfahren i.S.v. § 171b Abs. 1 und 2 GVG, wenn vom Betroffenen kein Antrag auf Ausschluss gestellt ist;[145]
Verfahren, bei denen einer der in § 172 Nr. 1–4 GVG genannten Fälle einschlägig ist.
 

Rz. 308

In den Fällen des nicht zwingenden Ausschlusses entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen. Eine unzulässige Beschränkung der Öffentlichkeit begründet einen absoluten Revisionsgrund gem. § 338 Nr. 6 StPO. Der Antrag auf Ausschließung während der Hauptverhandlung sollte möglichst schriftlich gestellt werden. Der Verteidiger muss wissen, dass er nicht nur für den Angeklagten den Ausschluss beantragen, sondern auch bei Zeugenaussagen eine entsprechende Anregung geben kann. Dies sollte er speziell dann ins Auge fassen, wenn er aufgrund seines Hintergrundwissens den Eindruck gewinnt, dass sich der Zeuge bei seiner Aussage zieren würde oder Beklemmungen hätte, von ihm also eine Aussage leichter zu gewinnen ist, wenn die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist.

 

Rz. 309

Vorliegend könnte der Verteidiger versuchen, den Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 1 Alt. 1 GVG für die Teile der Hauptverhandlung zu erreichen, in denen über Umstände aus dem Intimbereich des Mandanten gesprochen wird. Dabei sollte er herausstellen, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse an der öffentlichen Erörterung nicht bestehe, der Angeklagte aber in seinem Persönlichkeitsrecht empfindlich beeinträchtigt werde, weil familiäre Details und unter Umständen auch das Sexualleben der Betroffenen thematisiert würden. Er sollte darüber auch den Antrag stellen, dass die Verhandlung über den Ausschluss der Verhandlung nichtöffentlich stattfinden soll, § 174 Abs. 1 S. 1 GVG. Beim Vorliegen eines solchen Antrags muss die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, dem Gericht steht insoweit kein Ermessen zu.

[144] Weiterführend Breyer/Endler-Oetjen, AnwaltFormulare Strafrecht, Kap. 5 Rn 299 ff.; Peter, 1x1 der Hauptverhandlung, S. 97 ff.; Brüssow u.a./Gatzweiler/Mehle, Strafverteidigung in der Praxis, § 9 Rn 141 ff.
[145] Hier ist aber § 171b Abs. 4 GVG zu beachten, der den Ausschluss unmöglich macht, soweit die betroffene Person widerspricht.

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