Rz. 162

Fluchtgefahr ist gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen, die voll bewiesen sein müssen, die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich der Beschuldigte – zumindest für eine gewisse Zeit – dem Verfahren entziehen werde, in welchem die Anordnung von Untersuchungshaft erwogen wird. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Entziehen ist ein vom Beschuldigten oder mit seinem Wissen von anderen vorgenommenes Verhalten, das darauf abzielt, den Fortgang des Verfahrens dauernd oder vorübergehend zu verhindern, so dass der Beschuldigte für Ladungen, Vollzugs- und Vollstreckungsmaßnahmen nicht mehr zur Verfügung steht.

Als Fluchtvorbereitungen, die in der Regel die Fluchtgefahr begründen, werden häufig solche Verhaltensweisen des Beschuldigten gedeutet, die zu einer Lösung bisher bestehender Bindungen an das soziale und persönliche Umfeld führen. Ist ein Sichentziehen von Seiten des Beschuldigten allerdings gar nicht beabsichtigt, müssen von der Verteidigung die tatsächlichen Hintergründe und Absichten für die als Fluchtvorbereitungen gedeuteten Handlungen des Mandanten herausgearbeitet und nach Möglichkeit durch Beweismittel belegt werden.

 

Rz. 163

Oftmals wird der Haftgrund der Fluchtgefahr auf fehlende soziale und familiäre Bindungen gestützt und mit schematischen Pauschalformulierungen begründet. Bloße Umstände, die für eine Fluchtgefahr sprechen, sind aber für deren Annahme allein nicht ausreichend. Vielmehr ist maßgebend, ob der Beschuldigte diese Umstände wirklich ausnutzen wird. Die Annahme der Fluchtgefahr ist immer von der subjektiven Seite des Beschuldigten zu untersuchen; insofern besteht naturgemäß ein erhebliches Irrtumsrisiko. Dieses Risiko ist in der Weise einzugrenzen, dass für die Annahme der Fluchtgefahr eine höhere Wahrscheinlichkeit bestehen muss.[74] Um der üblichen pauschalen Begründungspraxis aufgrund mangelnder Einzelfallbetrachtung vorzubeugen, ist der Verteidiger gehalten, so viel Tatsachenstoff über Person und Lebensverhältnisse des Beschuldigten vorzulegen, dass sich das Gericht auf eine ausführliche Einzelfallbetrachtung einlassen muss. Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Falles, insbesondere der Art der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat, seiner Persönlichkeit, seiner Lebensverhältnisse, seines Vorlebens und seines Verhaltens vor und nach der Tat.[75]

 

Rz. 164

Fluchtgefahr kann u.a. am ehesten und nur schwer widerlegbar bei folgenden Umständen bejaht werden:

auffälliger Wohnungs- oder Arbeitsplatzwechsel;
Verwendung falscher Namen und Papiere;
Flucht in einem früheren Verfahren;
plötzliches Transferieren von Vermögen ins Ausland.
 

Rz. 165

Für Fluchtgefahr sprechen u.a. folgende Indizien, die aber im Rahmen der Gesamtabwägung des Einzelfalles nicht ausschlaggebend sein müssen:

charakterliche Labilität des Beschuldigten;
Neigung zu Glücksspiel oder Drogenmissbrauch;
gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Ruin;
Fehlen fester familiärer oder beruflicher Bindungen;
leicht lösbare Wohnungsverhältnisse oder Fehlen einer festen Wohnung oder Aufenthalts;
höchst zweifelhaft und strittig: Beziehungen zum Ausland, insbesondere dort befindliches Vermögen oder gute Sprachkenntnisse.[76]
 

Rz. 166

Das Fehlen eines Wohnsitzes, sozialer Bindungen und einer festen Erwerbstätigkeit zählen mit zu den wichtigsten Merkmalen, die in der Praxis zur Begründung von Fluchtgefahr herangezogen werden. Zu beachten ist, dass diese Merkmale nur abstrakter Natur sind und deshalb im Rahmen einer Gesamtabwägung aufgrund konkreter Anhaltspunkte ihre Indizwirkung verlieren können. Demnach sind die persönlichen Verhältnisse, wie etwa Alter, familiäre Bindungen, Freundeskreis, Vermögen, Wohnverhältnisse oder Erkrankungen, mit in die Betrachtung einzubeziehen.[77]

 

Rz. 167

Familiäre und sonstige persönliche Bindungen wie beispielsweise die Bindung durch eine Ehe oder nichteheliche Gemeinschaft sprechen gegen die Annahme einer Fluchtgefahr. Die Rechtsprechung verlangt allerdings eine stabile und dauerhafte Beziehung mit gemeinschaftlicher Lebensgestaltung und -planung. Sorgt der Beschuldigte für seine Familie und existieren Kinder, sind dies Indizien für stabile Lebensverhältnisse. Maßgeblich ist dabei die aktuelle Familiensituation, die allerdings durch den strafrechtlichen Vorwurf beeinträchtigt sein könnte.

 

Rz. 168

Eine hohe Straferwartung ist kein gesetzlich geregelter Haftgrund und kann deshalb allein die Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen.[78] Sie ist i.d.R. nur Anhaltspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass die Annahme gerechtfertigt ist, der Beschuldigte werde flüchten. In der Haftpraxis führt sie jedoch sehr häufig zur pauschalen Begründung der Fluchtgefahr. Ein freiwilliges Selbststellen kann hingegen der Annahme einer Fluchtgefahr entgegenwirken. Empirisch gesicherte Erkenntnisse ...

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