Rz. 185

Die Würdigung des Einzelfalles[87] und die Risikoabwägung sind nicht nur grundsätzlich ein schwieriges Unterfangen, da dies psychologisches Einfühlungsvermögen voraussetzt, sie stehen auch, wie jede Haftentscheidung, im Spannungsverhältnis von Eilbedürftigkeit und Sorgfaltspflicht.

 

Rz. 186

Da wesentliche Punkte im Rahmen der Prüfung von der meist nicht einsehbaren inneren Seite des Beschuldigten abhängen, entzieht sich auch die Beurteilung des Haftrichters häufig einer objektiven Nachprüfbarkeit. Dazu kommt, dass die Gründe, die in dem Haftbeschluss aufgeführt sind, nicht unbedingt diejenigen sein müssen, die den Richter in Wirklichkeit zu seiner Entscheidung bewogen haben. So finden sich in der Haftpraxis immer wieder Fälle, in denen die Haft in Wahrheit aus anderen als den im Gesetz normierten Gründen angeordnet wird. Dies sind die "wahren (geheimen) Haftgründe", die vom Gesetz nicht vorgesehenen Zielvorstellungen, welche sich hinter den vorgeschobenen gesetzlichen Haftgründen oder pauschalen Begründungen verbergen.[88]

Diese sog. apokryphen Haftgründe verfolgen u.a. folgende Ziele:

Generalprävention, etwa Strafvorwegnahme als abschreckender Denkzettel;
Krisenintervention, soziale Hilfeleistung, Opferschutz;
Beruhigung öffentlicher Erregung (Haftgrund der kochenden Volksseele);
Förderung der Therapie- oder Kooperationsbereitschaft;
Förderung der Geständnisbereitschaft;
Vorsorge gegen Verfahrensverzögerungen.
 

Rz. 187

Anhaltspunkte dafür, dass eventuell apokryphe Haftgründe bei der Haftanordnung eine Rolle gespielt haben,[89] ergeben sich, wenn etwa

die Höhe der zu erwartenden Strafe als alleiniges Indiz für die Fluchtgefahr angegeben wird;
die Gleichgültigkeit gegen Recht und Ordnung als Begründungselement auftaucht;
die Haft bei Bagatelldelikten und geringer Straferwartung angeordnet wird;
Flucht- oder Verdunkelungsgefahr allein aufgrund der Natur der Straftat angenommen werden (z.B. bei Wirtschaftsstrafsachen, Steuerhinterziehung, Betrug oder BtM-Delikten);
die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Täterkreis (Zuhälter, Hausbesetzer) als ausschlaggebendes Element erscheint.
 

Rz. 188

Nach der Rechtsprechung des BVerfG besteht der Zweck der Untersuchungshaft darin, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafverfolgung sicherzustellen. Darüber hinaus sind weitere Haftgründe ausgeschlossen.[90] Es erscheint wohl nicht ratsam, den Richter damit zu konfrontieren, dass im vorliegenden Fall apokryphe Haftgründe die entscheidende Rolle gespielt haben. Vielmehr ist die pauschale Annahme einer Gefahr i.S.d. § 112 StPO durch Tatsachenvortrag zu entwerten. Sobald sich der Richter mit den von der Verteidigung dargelegten Gesamtumständen des Einzelfalls auseinandersetzen muss, fällt es ihm schwer, die Untersuchungshaft mit einer pauschalen Begründung irgendeines gesetzlichen Haftgrundes anzuordnen bzw. aufrechtzuerhalten.

[87] Vgl. zum Ganzen Weider, StraFo 1995, 11 m.w.N.
[88] Vgl. Hassemer, StV 1984, 39; Löwe/Rosenberg-Lind, Vor § 112 StPO Rn 28; Beck-OK StPO/Kraus, § 112 Rn 4; SK-StPO/Paeffgen, § 112 Rn 21c ff.
[89] Bsp. bei Löwe/Rosenberg-Lind, Vor § 112 StPO Rn 28 m.w.N.
[90] Vgl. BVerfGE 32, 87, 93; BVerfGE 19, 343, 348.

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