Rz. 159

Die Untersuchungshaft darf nur angeordnet werden, wenn ein Haftgrund vorliegt, der die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherstellen soll. Die in §§ 112, 112a StPO genannten Haftgründe sind abschließend. Sie dürfen nur aufgrund bestimmter Tatsachen bejaht werden. Dies hat zur Folge, dass subjektive Vermutungen des Richters als Grundlage der Haftanordnung (grundsätzlich) unzulässig sind.[71] Als für den Haftgrund erhebliche Tatsachen kommen vor allem das Verhalten des Beschuldigten, sein Vorleben, seine persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse, sein soziales Umfeld sowie seine Beziehungen zu Dritten in Betracht. Die Mitverwertung von kriminalistischen und forensischen Erfahrungen wird allgemein als zulässig anerkannt, birgt aber insofern Probleme, als hier Intuition und ungeprüfte Alltagstheorien in die Bewertung mit einfließen.[72]

[71] Vgl. Karlsruher Kommentar-Graf, § 112 StPO Rn 9.
[72] Vgl. Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn 498. Zur Bejahung von nicht im Haftbefehl genannten Gründen OLG Hamm StV 1997, 35.

a) Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO)

 

Rz. 160

Der Haftgrund besteht, wenn der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält. Dem Beschuldigten muss es darauf ankommen, sich wegen der zu erwartenden Strafvollstreckung dem Strafverfahren dauernd oder zumindest für längere Zeit zu entziehen. Da wegen der subjektiven Komponente sichere Feststellungen über die Flucht eigentlich erst dann möglich sind, wenn der Beschuldigte ergriffen worden ist, soll es ausreichen, dass aufgrund bestimmter Tatsachen Flucht oder Verbergen näher liegen als andere Erklärungen für die derzeitige Unerreichbarkeit.[73] Mit dem Ergreifen entfällt der Haftgrund der Flucht, wobei ab diesem Moment in der Regel die Annahme einer Fluchtgefahr gerechtfertigt sein wird.

 

Rz. 161

Flucht liegt in der Regel nicht vor, wenn:

ein Reisender über seine Firma oder ein Reiseunternehmen erreichbar ist;
ein Ausländer sich in sein Heimatland zurückbegibt, ohne dass dies mit der ihm vorgeworfenen Straftat zusammenhängt;
bloßer Ungehorsam gegen Vorladungen, schlichtes Untätigsein, unbekannter Aufenthaltsort oder schlechte Erreichbarkeit im Ausland vorliegen.
[73] Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 StPO Rn 15; Löwe/Rosenberg-Lind, § 112 StPO Rn 46; Beck-OK StPO/Kraus, § 112 Rn 17 ff.

b) Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO)

 

Rz. 162

Fluchtgefahr ist gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen, die voll bewiesen sein müssen, die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich der Beschuldigte – zumindest für eine gewisse Zeit – dem Verfahren entziehen werde, in welchem die Anordnung von Untersuchungshaft erwogen wird. Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Entziehen ist ein vom Beschuldigten oder mit seinem Wissen von anderen vorgenommenes Verhalten, das darauf abzielt, den Fortgang des Verfahrens dauernd oder vorübergehend zu verhindern, so dass der Beschuldigte für Ladungen, Vollzugs- und Vollstreckungsmaßnahmen nicht mehr zur Verfügung steht.

Als Fluchtvorbereitungen, die in der Regel die Fluchtgefahr begründen, werden häufig solche Verhaltensweisen des Beschuldigten gedeutet, die zu einer Lösung bisher bestehender Bindungen an das soziale und persönliche Umfeld führen. Ist ein Sichentziehen von Seiten des Beschuldigten allerdings gar nicht beabsichtigt, müssen von der Verteidigung die tatsächlichen Hintergründe und Absichten für die als Fluchtvorbereitungen gedeuteten Handlungen des Mandanten herausgearbeitet und nach Möglichkeit durch Beweismittel belegt werden.

 

Rz. 163

Oftmals wird der Haftgrund der Fluchtgefahr auf fehlende soziale und familiäre Bindungen gestützt und mit schematischen Pauschalformulierungen begründet. Bloße Umstände, die für eine Fluchtgefahr sprechen, sind aber für deren Annahme allein nicht ausreichend. Vielmehr ist maßgebend, ob der Beschuldigte diese Umstände wirklich ausnutzen wird. Die Annahme der Fluchtgefahr ist immer von der subjektiven Seite des Beschuldigten zu untersuchen; insofern besteht naturgemäß ein erhebliches Irrtumsrisiko. Dieses Risiko ist in der Weise einzugrenzen, dass für die Annahme der Fluchtgefahr eine höhere Wahrscheinlichkeit bestehen muss.[74] Um der üblichen pauschalen Begründungspraxis aufgrund mangelnder Einzelfallbetrachtung vorzubeugen, ist der Verteidiger gehalten, so viel Tatsachenstoff über Person und Lebensverhältnisse des Beschuldigten vorzulegen, dass sich das Gericht auf eine ausführliche Einzelfallbetrachtung einlassen muss. Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Falles, insbesondere der Art der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat, seiner Persönlichkeit, seiner Lebensverhältnisse, seines Vorlebens und seines Verhaltens vor und nach der Tat.[75]

 

Rz. 164

Fluchtgefahr kann u.a. am ehesten und nur schwer widerlegbar bei folgenden Umständen bejaht werden:

auffälliger Wohnungs- oder Arbeitsplatzwechsel;
Verwendung falscher Namen und Papiere;
Flucht in einem früheren V...

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