Rz. 156

Der Begriff des dringenden Tatverdachts ist schwer zu fassen und wird allgemein dann angenommen, wenn eine hohe oder große Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist.[69] Bei der gerichtlichen Überprüfung im Wege der Haftprüfung, Haftbeschwerde oder weiteren Haftbeschwerde ist die jeweils aktuelle Verfahrens- und Beweislage des Einzelfalles maßgebend. Der dringende Tatverdacht kann somit im Laufe eines Verfahrens entkräftet oder weiter bestärkt werden. Der Verteidiger hat zu prüfen, ob die vorliegenden Tatsachen für die Annahme eines dringenden Tatverdachtes ausreichen, also inwiefern die dem Beschuldigten vorgeworfene Handlung unter ein Strafgesetz fällt und eine spätere Verurteilung ermöglicht (Schlüssigkeitskontrolle).[70] Eine zweifelhafte Auslegung des StGB kann keinen dringenden Tatverdacht begründen. Genauso verhält es sich bei Tatsachen, die aufgrund prozessrechtlicher Vorschriften im Rahmen der späteren Urteilsfindung nicht verwertet werden dürfen.

 

Rz. 157

Ein dringender Tatverdacht kann beispielsweise nicht angenommen werden, wenn

nur der Umstand vorliegt, dass der Beschuldigte zu der ihm vorgeworfenen Straftat schweigt oder entlastende Angaben erst nach anfänglichem Schweigen macht;
irreparable Fehler bei der Täteridentifizierung nachgewiesen werden können;
neben dem Beschuldigten eine andere Person mit derselben Wahrscheinlichkeit in Betracht kommt;
der entscheidende Belastungszeuge aus nicht nachvollziehbaren Gründen seine Aussage zum Vorteil bzw. zum Nachteil des Beschuldigten ändert oder Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit aufwirft;
der dringende Tatverdacht ausschließlich auf der Aussage eines gesperrten V-Mannes beruht, die nicht durch andere objektive Beweisanzeichen auf ihre Richtigkeit überprüft werden kann;
Widersprüche und Ungereimtheiten in den Angaben einer verdeckt vernommenen VP vorhanden sind.
 

Rz. 158

Die Annahme eines dringenden Tatverdachts ist problematisch, wenn nur ein einziger Belastungszeuge vorhanden ist und deshalb eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation besteht. Basiert ein Vorwurf allein auf Indizien und kann erst nach umfangreicher Beweisaufnahme geklärt werden, ob diese Indizien für den Nachweis einer Täterschaft ausreichen, ist ein dringender Tatverdacht jedenfalls dann abzulehnen, wenn die Unstimmigkeiten ausschließlich im Rahmen der Hauptverhandlung geklärt werden können.

[69] Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 StPO Rn 5 ff.
[70] Vgl. Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn 422.

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