Rz. 15

Am Beispiel eines Unfalls während des Abbiegevorgangs (siehe Abb. 4.6) sollen nachfolgend die Begriffe Signalposition, Reaktion und Vermeidbarkeit erläutert werden.

Die Skizze zeigt einen einbiegenden Kleinwagen, der aus einer untergeordneten Seitenstraße nach links auf die Hauptstraße fährt. Von links nähert sich ein Transporter. In Höhe der Einmündung kommt es zur Kollision zwischen den Fahrzeugen. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Kleinwagens soll mit 12 km/h, die des Transporters mit 30 km/h angenommen werden. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Hauptstraße soll ebenfalls nur 30 km/h betragen.

Abb. 4.6

 

Rz. 16

Damit der Transporter-Fahrer auf die Vorfahrtsverletzung mit einer Abwehrhandlung reagieren kann, muss er diese zunächst erkennen. Solange der Kleinwagen im Einmündungsbereich steht, ist dies noch kein Grund, eine Vollbremsung einzuleiten. Erst wenn sich der Kleinwagen in Bewegung setzt, wird die drohende Gefahrensituation erkennbar. Im Beispiel wurde unterstellt, dass der Anfahrvorgang nach 0,5 m Anfahrstrecke erkennbar wird. Dies kann je nach Situation aber auch unterschiedlich sein und obliegt nicht zuletzt der rechtlichen Würdigung. Die Position des Kleinwagens nach 0,5 m ­Anfahrstrecke wird als Signalposition bezeichnet. Erreicht der Kleinwagen die Signalposition, so ist dies für den Transporter-Fahrer der Zeitpunkt der Gefahrenverdichtung, in der unmittelbar eine Reaktion gefordert ist.

 

Rz. 17

In dem Weg-Zeit-Diagramm, das unterhalb des Fahrbahnverlaufes dargestellt worden ist, wurde zunächst die Fahrlinie des einbiegenden Kleinwagens eingetragen. Der Kleinwagen wurde 2,2 s vor der Kollision in Bewegung gesetzt und bis auf die Kollisionsgeschwindigkeit von 12 km/h beschleunigt. Wird die Lotrechte in einem Abstand von 0,5 m mit der Fahrlinie zum Schnitt gebracht, so erhält man den Zeitpunkt der Signalposition. Dieser liegt rund 1,4 s vor der Kollision. Anschließend wird in diesem Punkt eine waagerechte Konstruktionslinie nach links eingetragen. Diese Konstruktionslinie wird parallel um den Betrag der Reaktionsdauer nach unten verschoben. Hier wird mit dem gängigen Wert von 1 s operiert.

 

Rz. 18

Damit verbleiben dem Transporter-Fahrer vor der Kollision noch knapp 0,4 Sekunden Zeit, um zu bremsen. Ausgehend vom Kollisionsort, den der Transporter mit 30 km/h erreicht, wird der entsprechende Teil der Bremsparabel eingezeichnet. Mit einer üblichen Vollbremsverzögerung von z.B. a = - 8 m/s2 folgt die Bremsausgangsgeschwindigkeit, die der Transporter 0,4 s vor der Kollision inne hatte mit 40 km/h (B40). Nun ist auch bekannt, dass der Bremsbeginn (B40) knapp 3,5 m vor dem Kollisionsort lag.

 

Rz. 19

Mit der ermittelten Bremsausgangsgeschwindigkeit kann anschließend die Bewegungslinie des Transporters, in Form einer konstanten Geschwindigkeit von 40 km/h, fortgeführt werden. Der Schnittpunkt der Bewegungslinie (40 km/h) mit der waagerechten Linie zum Zeitpunkt der Signalposition führt zum Reaktionspunkt des Transporter-Fahrers, bezeichnet mit R40. Damit ist bekannt, dass der Transporter-Fahrer etwa 15 m vor der Kollision die Möglichkeit hatte, auf den einbiegenden Kleinwagen zu reagieren.

 

Rz. 20

Da mittlerweile der größte Teil der im Verkehr befindlichen Fahrzeuge mit Antiblockiersystemen (ABS) ausgestattet ist, gibt es kaum noch Verkehrsunfälle, bei denen massive Blockierspuren vorhanden sind, die eine Abbremsung bzw. auch den Bremsbeginn belegen. Nach gängiger Auffassung zeichnen ABS-Fahrzeuge keine Bremsspuren. Dass dies nicht immer der Fall ist, wurde bereits im vorangegangenen Kapitel gezeigt. Auch ABS-Fahrzeuge können deutlich erkennbare Bremsspuren hinterlassen. Aus der Erwartungshaltung ohnehin keine Bremsspuren zu finden, werden leichte ABS-Bremsspuren an der Unfallstelle schnell übersehen. Werden die Fotos der Polizei im Rahmen einer Unfallrekonstruktion nachträglich mit einem Fotoprogramm bearbeitet, so lassen sich häufig auch leichte Spurzeichnungen erkennbar herausarbeiten.

 

Rz. 21

Wenn tatsächlich eine Bremsspur vorliegt, kann ein Geschwindigkeitsabbau vor der Kollision unmittelbar belegt werden. Sofern keine Spur vorhanden ist oder nicht erkannt wurde, lässt sich im Zweifelsfall nicht ermitteln, ob der Fahrzeugführer mit einer Abbremsung reagierte. Demzufolge könnte auch eine verspätete Reaktion vorgelegen haben. Dies könnte in einem Strafprozess möglicherweise anders bewertet werden, als eine Geschwindigkeitsüberschreitung.

 

Rz. 22

Im vorliegenden Beispiel wird jedoch unterstellt, dass der Transporter-Fahrer die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 10 km/h überschritt, wie es im Weg-Zeit-Diagramm ausgearbeitet worden ist. Es schließt sich die Frage an, wie sich die Situation entwickelt hätte, wenn der Transporter-Fahrer mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von nur 30 km/h gefahren wäre. Für die Vermeidbarkeitsbetrachtung ist ausschließlich der Zeitpunkt der tatsächlichen bzw. möglichen Reaktion (hier R40) entscheidend. Nur zu diesem Zeitpunkt kann eine Alternativhandlung angesetzt wer...

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