Rz. 200

Die Sozialversicherungspflicht tritt grds. rückwirkend mit dem Tag des Eintritts in das Beschäftigungsverhältnis ein, auch wenn dieser Zeitpunkt Monate oder Jahre zurückliegt. Schuldner der gesamten Sozialversicherungsbeiträge einschließlich des Arbeitnehmeranteiles ist nach § 28e Abs. 1 SGB IV der Arbeitgeber.[330]

Die Höhe der nachzuentrichtenden Sozialversicherungsbeiträge richtet sich nach den vom Arbeitgeber zu erbringenden Beitragsnachweisen. Kommt der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Mitteilung der Bezüge seines Arbeitnehmers nicht gem. § 28f Abs. 3 Satz 1 SGB IV nach, ist es zulässig, die Beiträge durch Schätzung festzulegen.[331]

 

Rz. 201

 

Praxishinweis

Die Gesamtsummen der jährlich in Rede stehenden Beitragsnachforderungen der Sozialversicherungsträger sind immens und steigend!
Während im Jahr 2011 bereits weit über eine halbe Milliarde Euro[332] an Nachforderungen genannt wurden, wurden im Jahr 2016 nahezu 1 Milliarde EUR jährlich[333] genannt.
 

Rz. 202

Die auch im jeweils konkreten Einzelfall z.T. horrenden Nachforderungen der Rentenversicherungsträger stoßen vielfach auf Unverständnis. Dies gilt insbesondere dann, wenn trotz jahrelang unbemängelter Praxis anlässlich einer Betriebsprüfung Beiträge weit in die Vergangenheit nachgefordert werden, obwohl bei mehreren Prüfungen zuvor keine Beanstandung erfolgte. Die Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit begründet dies damit, dass Beitragsprüfbescheide aus der Vergangenheit keinen Bestandsschutz genießen, weil sie nicht der Entlastung der Arbeitgeber dienen.

 

Rz. 203

Umso mehr ist zu begrüßen, dass mit detaillierter Begründung auch eine kritische Stimme aus der Sozialgerichtsbarkeit zu vernehmen ist.[334] Dieser richtungsweisende Ansatz ist die Anwendung des § 31 SGB X auf jeden Beitragsprüfungsabschluss und in der Folge die Gewährung des Vertrauensschutzes aus § 45 SGB X für die Rücknahme bereits ergangener Prüfbescheide. Das Bayerische LSG hatte in diesem Sinn in zwei Entscheidungen klargestellt, dass bei einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV keine Sachverhalte aufgegriffen werden können, die im Prüfungszeitpunkt einer bereits abgeschlossenen Prüfung liegen.[335] Die Spitzenverbände der Sozialversicherung sahen hingegen in den vorgenannten Entscheidungen keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung, da die Prüfungen der Rentenversicherungsträger sich nur auf Stichproben beschränken würden.[336]

 

Rz. 204

Das LSG Rheinland-Pfalz griff in seiner Entscheidung vom 16.4.2014 ebenfalls den Weg des Vertrauensschutzes aus § 45 SGB X auf. Wurde bereits eine Betriebsprüfung durchgeführt und ein Prüfungsbescheid erlassen, so sei dieser erst nach § 45 SGB X zurückzunehmen, bevor zum selben Prüfungszeitraum eine weitere Beitragsnachforderung erhoben werden darf.[337]

 

Rz. 205

Das BSG hat allerdings diese Diskussion zumindest vorläufig unter Aufhebung des vorgenannten Urteils des LSG Rheinland Pfalz beendet, indem es erneut die Zulässigkeit des Eingriffs in abgeschlossene Prüfungszeiträume bestätigt hat.[338] Eine frühere "beanstandungsfrei" verlaufene Betriebsprüfung mit Schlussbesprechung und ein darauf ergangener Bescheid entfalte keine Bindungswirkung und vermittele keinen "Bestandsschutz". Für die gegenteilige Auffassung gäbe es keine Rechtsgrundlage. Das Sozialversicherungsrecht enthalte gerade keine Vorschrift, die mit der Änderungssperre nach § 173 Abs. 2 S. 1 AO für Steuerbescheide, die aufgrund einer steuerlichen Außenprüfung ergangen sind, vergleichbar ist.

 

Rz. 206

Dieser Linie des BSG ist unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes in geprüfte Zeiträume nicht zuzustimmen. Die Stichproben-Theorie, die es ermöglicht, die Beteiligten beliebig und ohne Rechtssicherheit über viele Jahre rückwirkend in Anspruch zu nehmen, widerspricht rechtsstaatlichen Grundsätzen. Es wäre im Interesse der Rechtssicherheit für die geprüften Unternehmen zu begrüßen, wenn das BSG generell die Zulässigkeit des Aufgreifens von Sachverhalten in geprüften Zeiträumen auf krasse Missbrauchsfälle begrenzen würde. Damit würde auch dem in der Praxis häufigen Streit über die zutreffende Dokumentation des Umfangs einer Jahre zurückliegenden Prüfung begegnet.

 

Rz. 207

Mit der Entscheidung des BSG v. 19.9.2019[339] ist erneut Bewegung in die Thematik gekommen. Auch wenn das BSG wiederum dem Aspekt des Vertrauensschutzes nicht gefolgt ist, so hat die Entscheidung zumindest mehr Rechtssicherheit für Betriebe mit – unter Umständen jahrelangen – Betriebsprüfungen "ohne" Beanstandungen gebracht. Denn Betriebsprüfungen müssen künftig zwingend in jedem Fall – d.h. nicht nur bei Betriebsprüfungen "mit" Beanstandungen – einen entsprechenden Prüfungsbescheid (Verwaltungsakt) erlassen, der formell- und materiell-rechtlichen Anforderungen genügen muss, darunter dem Bestimmtheitsgebot nach § 33 Abs. 1 SGB X. Konkret muss in dem Verwaltungsakte der Gegenstand und das Ergebnis der Betriebsprüfung, also "wer" und "was" geprüft wurde, genannt werden.

 

Rz. 208

Es wäre zu begrüßen, wenn das BSG mit der vor...

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