Rz. 1

"Arbeitsrecht 4.0" symbolisiert ein Arbeitsrecht im Wandel. "Home-Office", "Mobile-Office", "Agile Working", "Scrum", "Desksharing", "Crowdwork" oder auch "Bring Your Own Device (BYOD)", schon diese Auswahl an Anglizismen lässt die Dynamik erkennen, mit der Globalisierung und Digitalisierung in die arbeitsrechtliche Vertragsgestaltung Einzug gehalten haben. Doch es wäre verkürzend, allein Globalisierung und Digitalisierung als Triebfeder eines sich wandelnden Arbeitsrechts auszumachen: Wie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) mit dem im Februar 2017 vorgelegten "Weißbuch Arbeiten 4.0"[1] herausgearbeitet hat, ändern demographischer und kultureller Wandel das klassische Arbeitsverhältnis nicht minder. So trifft das Interesse an größerer Souveränität im "Wann" und "Wo" der Arbeit – begründet im Wunsch der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – auf die vielfältigen Möglichkeiten, die die Digitalisierung durch mobile, digitale Endgeräte und Informationstechnologie bietet. Corona hat gelehrt, was alles möglich ist, und viele Arbeitnehmer sind nicht bereit, die praktizierte Flexibilität wieder preiszugeben. Hinzu kommen neue Raumkonzepte, die auf weniger Präsenz am Arbeitsplatz setzen und so Büroraum und Kosten sparen. Darüber hinaus fördert die Digitalisierung der Arbeitswelt eine neue Arbeitskultur, die die klassische, vertikale Führungsstruktur mit Weisungsbefugnissen von "oben nach unten" hinterfragt und zu möglichst flachen Hierarchien bis hin zu – im Idealbild – weisungsfreien Arbeitsformen (z.B. Scrum)[2] führt.[3] Stichworte, die diese Entwicklung fassen, sind beispielsweise "Digital Leadership"[4] und "Agile Working".

 

Rz. 2

So groß die Verlockungen dieser neuen Arbeitsformen auch sein mögen, für das Arbeitsrecht sind sie herausfordernd. Je stärker das arbeitsrechtliche Weisungsrecht in den Hintergrund tritt, desto schneller verschwimmen die Grenzen zwischen abhängiger und selbstständiger Arbeit. Zudem stellen neue Gestaltungsmöglichkeiten wie etwa Crowdwork das Normalarbeitsverhältnis in Frage und schaffen Freiraum für neue selbstständige Beschäftigungsformen.[5] Das setzt primär die Sozialversicherungssysteme unter Druck. Die zeitliche und räumliche Entgrenzung von Arbeit durch den Einsatz mobiler, digitaler Endgeräte ist des Weiteren Aufgabe für Arbeitszeitrecht und Beschäftigtendatenschutz.[6]

 

Rz. 3

Der Gesetzgeber hält sich weithin zurück. Wie schon der Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode[7] weist der Gesetzgeber im Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode[8] die Hauptlast, nämlich die Flexibilisierung des "Wann", "Wo" und "Wie lange" der Arbeit mit den Vorgaben des Arbeitszeitrechts in Einklang zu bringen, den Tarif- und Betriebsparteien zu. Diesen sollen "Experimentierräume" zur Verfügung gestellt werden.

 

Rz. 4

Die Tarifvertragsparteien haben aber auch schon ohne entsprechende gesetzliche Initiativen den Gestaltungsbedarf erkannt und schaffen durch Nutzung der bereits existenten Tariföffnungsklausel in § 7 Abs. 1, 2 ArbZG für tarifgebundene Arbeitgeber einen Rahmen, der beispielsweise die Abkürzung der gesetzlichen Ruhezeit auf bis zu neun Stunden vorsieht.[9] Daneben sind es die Betriebsparteien, die auf Grundlage entsprechender Tarifverträge oder mit Blick auf die häufig relevanten Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1, 6 BetrVG und nunmehr § 87 Abs. 1 Nr. 14 BetrVG Regelungen treffen. Betriebsvereinbarungen zu Home-Office und Mobilem Arbeiten finden immer mehr Verbreitung, Betriebsvereinbarungen zu flexiblen Arbeitszeitmodellen wie Arbeitszeitkonten oder Vertrauensarbeitszeit sind gang und gäbe.

 

Rz. 5

Doch auch für die Arbeitsvertragsgestaltung bleiben Spielräume: Dort, wo etwa mangels Tarifbindung keine Tarifverträge entgegenstehen, ein Betriebsrat nicht existiert, Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats also nicht greifen und gesetzliche Regelungen der Arbeitsvertragsgestaltung nicht entgegenstehen (so etwa die allein den Tarifvertragsparteien vorbehaltene Öffnungsklausel in § 7 Abs. 1, 2 ArbZG), sind die Arbeitsvertragsparteien gefragt. Aus dem Blickwinkel des "Arbeitsrechts 4.0" ergeben sich insoweit drei zentrale Regelungskomplexe, nämlich Regelungen zur

Flexibilisierung des Arbeitsortes, (Rdn 6 ff.),
Flexibilisierung der Arbeitszeit (Rdn 29 ff.) und
Steuerung des arbeitsvertraglichen Weisungsrechts gem. § 106 GewO (Rdn 89 ff.).
[1] https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a883-weissbuch.pdf;jsessionid=D4647EF0CFAF5634A7CDCF2A69DE53CF?__blob=publicationFile&v=9.
[2] Siehe hierzu Klösel/Klötzer-Assion/Mahnhold/Mahnhold, Contractor Compliance, S. 382 ff.
[3] Günther/Böglmüller, NZA 2017, 546.
[4] Günther/Böglmüller, NZA 2017, 546.
[5] Zur Abgrenzung von abhängiger und selbstständiger Arbeit auch mit Blick auf neue Arbeitsformen siehe etwa Klösel/Klötzer-Assion/Mahnhold/Klösel, Contractor Compliance, S. 14 ff. und Klösel/Klötzer-Assion/Mahnhold/Mahnhold, Contractor Compliance, S. 382 ff.
[6] Krause, NZA-Beilage 2017, ...

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