Rz. 64

Eine besondere örtliche Gefahrenlage i.S.d. § 45 Abs. 9 S. 2 StVO, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der Wohnbevölkerung durch Lärm und Abgase erheblich übersteigt und die deshalb gemäß § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen ermöglicht, den Verkehr zu beschränken oder zu verbieten, liegt dann vor, wenn Lärm oder Abgase Beeinträchtigungen mit sich bringen, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen werden muss und damit zugemutet werden kann.[94]

 

Rz. 65

§ 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO gibt dem Einzelnen einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein straßenverkehrsrechtliches Einschreiten, wenn Lärm oder Abgase Beeinträchtigungen mit sich bringen, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muss.[95] Dabei bestimmt kein bestimmter Schallpegel oder Abgaswert die Grenze der Zumutbarkeit. Abzustellen ist vielmehr auf die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit des Anliegers sowie auf eine eventuell gegebene Vorbelastung. Maßgebend sind auch die Besonderheiten des Einzelfalles.[96]

 

Rz. 66

Die Grenze der Zumutbarkeit von Verkehrslärm ergibt sich zuerst aus der Höhe der Immissionen und dann aus der durch die Widmung ableitbare Verkehrsbedeutung der Straße.[97] Ist die Zumutbarkeitsgrenze nicht erreicht (bzw. deren Erreichen mangels Ermittlungen nicht belegt), ist das behördliche Ermessen für – aus Lärmschutzgründen – verkehrsbeschränkende oder verbietende Maßnahmen von vornherein nicht eröffnet.[98] Wird die Zumutbarkeitsgrenze dagegen erreicht, ist das Bedürfnis nach Wohnruhe mit dem ihm zukommenden Gewicht in die Ermessensüberlegungen einzubeziehen und mit den Übrigen privaten oder öffentlichen Interessen abzuwägen.[99] Dies kann zu verkehrsbeschränkenden (etwa Geschwindigkeitsreduzierung) oder verkehrsverbietenden Maßnahmen führen. Bei Verkehrsverboten ist dabei auch die Belastung der Anlieger absehbarer Ausweichstrecken in die Überlegungen mit einzubeziehen.[100]

 

Rz. 67

Verkehrslärm, der von den Anliegern etwa einer Bundesfernstraße (einschließlich Ortsdurchfahrt) oder auch einer Staatsstraße bzw. einer Kreisstraße wegen ihrer der Widmung entsprechenden Verkehrsbedeutung ertragen werden muss, ist nicht ohne Weiteres in gleicher Weise den Anliegern einer Ortserschließungsstraße zumutbar.[101] Eine solche Besonderheit des Einzelfalles liegt vor, wenn eine Ortsumgehungsstraße entgegen ihrer eigentlichen Funktion zunehmend vom überörtlichen Verkehr als so genannter Schleichweg in Anspruch genommen wurde und damit Lärmbelästigungen ausgelöst worden sind, die von den Anliegern reiner Wohnstraßen üblicherweise nicht hingenommen werden müssen.[102]

 

Rz. 68

Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind ferner die Belange des Straßenverkehrs und der Verkehrsteilnehmer zu würdigen. Schließlich sind auch die Interessen anderer Anlieger, die durch lärm- oder abgasreduzierende Maßnahmen ihrerseits übermäßig durch Abgas oder Lärm beeinträchtigt würden, zu berücksichtigen. Dabei darf die Behörde in Wahrung allgemeiner Verkehrsrücksichten und sonstiger entgegenstehender Belange von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen umso eher absehen, je geringer der Grad der Lärm- oder Abgasbeeinträchtigung ist, der entgegengewirkt werden soll.[103]

 

Rz. 69

Auch wenn der Anspruch aus § 45 Abs. 1 StVO grundsätzlich auf den Schutz der Allgemeinheit gerichtet ist, haben Anwohner einen Anspruch darauf, dass über ihren Antrag auf Anordnung verkehrsbeschränkender Maßnahmen ermessensfehlerfrei entschieden wird.[104] Bei der Ermessensentscheidung über verkehrsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz vor Lärm ist eine umfassende Güterabwägung vorzunehmen. § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO gewährt Schutz vor Verkehrslärm bereits dann, wenn der Lärm Beeinträchtigungen mit sich bringt, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs als ortsüblich hingenommen werden muss, und nicht erst dann, wenn der Lärm einen bestimmten Schallpegel überschreitet.[105]

Verkehrsbeschränkungen aus Lärmschutzgründen sind auf Antrag von Straßenanwohnern bereits dann zu prüfen, wenn die Lärmbelästigung noch nicht die Verkehrslärmwerte der Verkehrslärmschutzverordnung erreicht haben.[106]

 

Rz. 70

Es ist nicht zu beanstanden, wenn bei der Beurteilung der Frage, ob eine Beeinträchtigung durch Verkehrslärm vorliegt, die sog. fachplanungsrechtliche Zumutbarkeitsschwelle entsprechend § 2 Nr. 2 Verkehrslärmverordnung – 16. BImSchV herangezogen wird.[107] Die Immissionsgrenzwerte treffen nämlich eine Aussage dazu, bis zu welcher Grenze Verkehrslärm entschädigungslos hinzunehmen ist. Sie konkretisieren insofern den Punkt, an dem die allgemeine staatliche Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) in eine Schutzpflicht gegenüber den einzelnen Individuum umschlägt.[108]

 

Rz. 71

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