Rz. 70

Im Jahr 2020 wurden, wie oben erwähnt, 198.766 Kündigungsschutzverfahren in Deutschland erledigt.[33] Im selben Jahr wurden 9 % aller arbeitsrechtlichen Urteilsverfahren durch Urteil beendet. In 65 % aller Fälle endete das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren aber durch Parteihandlungen (Vergleich, Klagerücknahme, Erledigung).

 

Rz. 71

Diese Zahlen zeigen, dass es Sinn macht, sich etwas intensiver mit Fragen der Verhandlungsstrategie zu beschäftigen. Der schwerpunktmäßig mit Kündigungsschutzsachen beschäftigte Rechtsanwalt wird sicherlich im Laufe der Zeit an Verhandlungskompetenz gewinnen, die konzentrierte Beschäftigung mit Verhandlungsmodellen kann dennoch von Hilfe sein. Dass insbesondere im Arbeitsrecht Verhandlungslösungen so häufig vorkommen, lässt sich damit begründen, dass angesichts einer ausufernden Kasuistik und der Ungewissheit über Darleg- und Beweisbarkeit eines konkreten Sachverhalts für die Parteien meist nicht mit letzter Klarheit feststeht, welchen Ausgang eine gerichtliche Auseinandersetzung nehmen wird. Das Verhandlungsergebnis ist wesentlich davon geprägt, inwieweit es gelingt, diese Unsicherheit der jeweils anderen Seite möglichst gut auszunutzen. Hierbei sollte allerdings der Fehler vermieden werden, in Kategorien wie Sieger und Verlierer zu denken/handeln. Wichtig ist, in jeder Verhandlungsphase flexibel zu bleiben, nach Lösungen zu suchen, mit denen beide Parteien leben können etc. Erfolgreiches Verhandeln setzt voraus, die Interessen der eigenen Seite durchzusetzen, ohne die Interessen der gegnerischen Partei zu missachten. Ein Vergleich kann eben nur geschlossen werden, wenn Interessen verglichen werden.

 

Rz. 72

Es existiert eine Vielzahl von Verhandlungsmodellen; wichtig ist weniger, welches Modell das Beste ist, es geht vielmehr darum, den jeweiligen Verhandlungspartner zu verstehen und insbesondere der Persönlichkeit des Mandanten wie auch der eigenen gerecht zu werden.

[33] Quelle: Ergebnis der Statistik der Arbeitsgerichtsbarkeit 2020, veröffentlicht v. Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

I. Festpreis

 

Rz. 73

Es gibt Situationen, in denen tatsächlich das sog. "Festpreismodell", auch genannt "Boulware-Modell",[34] zu den besten Ergebnissen führen kann. Dieses Modell wenden im Handel Marktführer an, die es schlicht nicht nötig haben, über den Preis zu verhandeln.[35] Genauso handeln Parteivertreter, die sich sehr sicher bei der Einschätzung der Sach- und Rechtslage im konkreten Einzelfall sind. Exemplarisch für dieses Verhandlungsmodell ist folgender Fall:

 

Rz. 74

 

Beispiel

Ein IT-Dienstleister entschließt sich, eine Arbeitnehmerin zu entlassen, die bisher Tätigkeiten des Empfangs und der Telefonzentrale ausgeübt hat. Künftig sollen alle Mitarbeiter gemeinschaftlich eingehende Telefonanrufe im Wege einer Schaltung, die die eingehenden Telefonate gleichmäßig auf alle Nebenstellen verteilt, entgegennehmen. Die eigentlichen Empfangstätigkeiten werden künftig von einem Fremdanbieter für das gesamte Gebäude, in dem mehrere Firmen sitzen, übernommen. Damit ist der Arbeitsplatz der Arbeitnehmerin entfallen. Eine Sozialauswahl war nicht durchzuführen, vergleichbare Arbeitnehmer gibt es nicht. Ein Betriebsrat ist nicht gebildet. Der Arbeitgeberanwalt hatte im Vorgespräch dennoch den Rat erteilt, einen Vergleich auf Basis der üblichen Formel (halbes Bruttomonatsgehalt pro Jahr der Betriebszugehörigkeit) zu akzeptieren. Hintergrund war die Erwägung, dass die Arbeitnehmerin bekanntermaßen rechtsschutzversichert war, der Arbeitgeberanwalt auf Basis eines hohen Stundensatzes tätig ist und die Arbeitnehmerin aufgrund ihrer kurzen Betriebszugehörigkeit als Regelabfindung einen Betrag von etwa 3.000 EUR erhalten hätte. Der Arbeitgeber erklärte, er sei an einem Streit überhaupt nicht interessiert, er sei bereit, bis zu 5.000 EUR zu zahlen. Auf Basis dieser Vorbesprechung ging man gemeinschaftlich in den Gütetermin. Im Gütetermin trat eine Gewerkschaftssekretärin auf, die die Güteverhandlung mit der Bemerkung eröffnete: "Ich habe überhaupt keine Zeit, ich muss in zehn Minuten beim nächsten Termin sein, ich vergleiche mich auf Basis einer ordentlichen Kündigung gegen Zahlung von 8.000 EUR". Sowohl das Gericht als auch der Anwalt versuchten die Gegenseite zu einem nachvollziehbaren Angebot zu bewegen. Die Gewerkschaftssekretärin wiederholte, sie habe keine Zeit, entweder man vergleiche sich auf Basis von 8.000 EUR oder man müsse den Rechtsstreit ausfechten. Nachdem dieses Spiel drei oder vier Mal hin und her gegangen war, erklärte der Arbeitgeber, ihm sei seine Zeit zu schade, er akzeptiere die 8.000 EUR, insbesondere da er sich nicht streiten wolle.

 

Rz. 75

Problematisch an einem solchen Modell ist, dass das konsequente Nichtverhandeln über die eigene Position manchmal zur nachhaltigen Verärgerung der Gegenseite führt, so dass diese überhaupt nicht mehr bereit ist, über einen Vergleich zu sprechen. Erkennt man aber im Vorfeld, dass die Gegenseite an einem Vergleich interessiert sein muss, so mag dieses Fixpr...

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