Rz. 906

Der geltende Kündigungsschutz erschöpft sich nicht im KSchG. Es existiert ein weites Spektrum von Kündigungsbeschränkungen, das von einfachen gesetzlichen Schranken bis hin zu temporären absoluten Kündigungsverboten reicht. KSchR ist für Arbeitnehmer und Arbeitgeber konkretisiertes Verfassungsrecht. Eine unmittelbare verfassungsrechtliche Kündigungsschranke enthält Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG. Seit dem Beschl. des BVerfG (24.4.1991 – 1 BvR 1341/90, NJW 1991, 1667) und der Folgeentscheidung (BVerfG v. 10.3.1992 – 1 BvR 454/91, NJW 1992, 1373) steht für die Praxis fest, dass Art. 12 Abs. 1 GG die Wahl des Arbeitsplatzes schützt und sich dieser Schutz nicht in der Entscheidung für eine konkrete Beschäftigung erschöpft, sondern auch auf den Willen des Einzelnen erstreckt, diesen beizubehalten oder aufzugeben. Auf der Grundlage der vorzitierten Judikatur des BVerfG ist der Gesetzgeber gezwungen, bei der Ausgestaltung des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes die widerstreitenden Grundrechtspositionen beider Arbeitsvertragsparteien auch und gerade für besondere Gefährdungslagen zu berücksichtigen (Dieterich, RdA 1995, 129, 134). Daraus lässt sich ableiten, dass der Gesetzgeber bei einzelnen Arbeitnehmern einen verstärkten Bestandsschutz etablieren muss, deren Arbeitsverhältnis im Hinblick auf ihre persönlichen Eigenschaften oder die Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Funktionen in besonderem Maße einer Gefährdung ausgesetzt ist. Der verfassungsrechtlich intendierte Freiheits- und Interessenausgleich zwischen der Kündigungsfreiheit für den Arbeitgeber und dem Bestandsschutz für den Arbeitnehmer ist einfachgesetzlich zu konkretisieren. Dabei kommt es auf Folgendes an: Je präziser der Gesetzgeber den allgemein bestehenden verfassungsrechtlichen Grundkonflikt zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen regelt, desto weniger darf die Rspr. mittelbar oder unmittelbar Grundrechtspositionen zur Korrektur gesetzlicher Wertungen heranziehen (hierzu Preis, NZA 1997, 1256, 1257 f.).

 

Rz. 907

Viele der im Folgenden erörterten Kündigungsverbote und Kündigungsschranken sind verfassungsrechtlich veranlasst, teilweise grundgesetzlich garantiert. Viele spezielle Kündigungsverbote ziehen ihre Legitimation aus speziellen verfassungsrechtlichen Schutzgeboten. Als Beispiel ist der Kündigungsschutz für werdende Mütter mit seiner Herleitung aus Art. 6 GG zu nennen. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG regelt, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Wehrpflicht und Zivildienst haben Verfassungsrang (Art. 12a, 73 Nr. 1, 87a, 115b GG).

 

Rz. 908

Hierdurch werden bestimmte Arbeitnehmergruppen und Arbeitsverhältnisse ggü. Arbeitnehmern mit allgemeinem Kündigungsschutz privilegiert. Neben einzelvertraglichen, betriebsvereinbarungsmäßigen und tarifvertraglichen Kündigungsschranken gibt es einen statusbezogenen Kündigungsschutz für betriebsverfassungs- und personalvertretungsrechtliche Funktionsträger sowie für Parlamentarier. Das in der Praxis wichtigste Beispiel ist der Sonderkündigungsschutz betriebsverfassungs- und personalvertretungsrechtlicher Funktionsträger nach § 15 KSchG, der nur die Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist für zulässig erklärt. Abgeordnete dürfen nur aus wichtigem Grund gekündigt werden, wobei diese Kündigungsmöglichkeit nicht ausdrücklich auf die fristlose Kündigung beschränkt ist (§ 2 AbgG).

 

Rz. 909

Darüber hinaus werden besondere Arbeitnehmergruppen wie werdende Mütter, Schwerbehinderte, Zivil- und Wehrdienstleistende durch einen öffentlich-rechtlich flankierten Kündigungsschutz abgesichert. Statusbezogen sind die öffentlich-rechtlichen Sonderkündigungsnormen, die die ordentliche Kündigung temporär vollständig ausschließen, § 2 Abs. 1 ArbPlSchG, § 78 ZDG. Andere statusbezogene Schutznormen sind systematisch durch ein öffentlich-rechtliches Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gekennzeichnet. Beispiele hierfür sind § 17 MuSchG, § 18 BEEG und §§ 168 ff. SGB IX.

 

Rz. 910

Schließlich führen statusbezogene Diskriminierungs- und Benachteiligungsverbote zugunsten von z.B. Auszubildendenvertretern, ehrenamtlichen Richtern und Soldaten dazu, dass diese Personengruppen durch Kündigungen nicht benachteiligt werden dürfen.

Hierzu zählen auch:

§ 78 BetrVG (Betriebsratsmitglieder),
§ 2 Abs. 3 S. 1 AbgG (Abgeordnete),
§§ 58, 58d BImSchG (Immissionsschutzbeauftragte, Störfallbeauftragte). Nicht öffentliche Arbeitgeber müssen einen Datenschutzbeauftragten benennen, soweit sie in der Regel mindestens 20 Personen ständig mit der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten beschäftigen. Gem. §§ 38 Abs. 2, 6 Abs. 4 S. 2 BBDSG ist die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Datenschutzbeauftragten unzulässig, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, die eine Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen. Das Absinken der Beschäftigtenzahl unter den für die verpflichtende Benennung des Datenschutzbeauftragten maßgeblichen Schwellenwert während der Tätigkeit als...

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