Rz. 4

Das Ereignis muss plötzlich eingetreten sein. In Rechtsprechung und Literatur hat sich bisher keine einheitliche Interpretation des Merkmals der Plötzlichkeit durchgesetzt.

1. Objektive Komponente (zeitliches Element)

 

Rz. 5

Der Begriff "Plötzlichkeit" enthält zunächst unstreitig ein objektiv zeitliches Element des Unfallbegriffs, indem durch ihn schon nach seinem Wortsinn nur solche Ereignisse einen Unfall darstellen können, die innerhalb eines kurzen, begrenzten Zeitraumes eintreten und wirken. Das Merkmal dient daher der Abgrenzung zu nur allmählich auf den Körper wirkenden Ereignissen.[1]

 

Abgrenzungsbeispiele

Unter der VP bricht unvermittelt das Brett eines Holzstegs ein.

Der Steg brach schnell, das Ereignis ist plötzlich im Sinne des Unfallversicherungsrechts.

Ein Bauarbeiter arbeitet jahrelang ohne Gehörschutz an einem lauten Presslufthammer. Jetzt ist das Gehör geschädigt.

Hier vollzieht sich das schädigende Ereignis (Lärmeinwirkung) über Jahre, weshalb es am Merkmal der Plötzlichkeit fehlt.

 

Rz. 6

Zu beachten ist, dass das Ereignis selbst – und nicht die Gesundheitsschädigung als Folge des Ereignisses – innerhalb einer kurzen Zeit eingetreten sein muss.[2] So kann z.B. die Plötzlichkeit eines am Abend erfolgten Ereignisses nicht verneint werden, weil die Gesundheitsschädigung hierdurch erst am nächsten Morgen eingetreten ist. Die Gesundheitsbeschädigung muss zwar adäquat kausal auf die Einwirkung zurückzuführen, nicht aber zeitlich unmittelbare Folge der plötzlichen Einwirkung sein.[3]

Andererseits lässt das plötzliche Auftreten eines Gesundheitsschadens keinen Rückschluss auf die Plötzlichkeit des Ereignisses zu.[4]

 

Rz. 7

In welchem Zeitraum ein Ereignis noch "plötzlich" oder schon "allmählich" auf den Körper wirkt, lässt sich nicht abstrakt festlegen, sondern nur anhand des Einzelfalles entscheiden. Als kurz sind in der Rechtsprechung Zeiträume von mehreren Minuten bis zu 2 Stunden angesehen worden.[5] Richtigerweise wird man aber annehmen müssen, dass schon ein Zeitraum von mehreren Minuten nicht mehr im rein objektiven Sinne als kurz bezeichnet kann.[6] Bei Überschreiten dieses Zeitraums kann allerdings die subjektive Komponente des Begriffs der Plötzlichkeit zum Tragen kommen.

[1] BGH v. 12.12.1984 – IV a ZR 88/83, VersR 1985, 177 = r+s 1985, 53 = NJW 1985, 1398.
[2] OLG München v. 12.3.2003 – 25 U 1993/03, VersR 2005, 261; Grimm, Ziff. 1 Rn 20; Bruck/Möller-Leverenz, § 178 VVG Rn 82.
[3] Kloth, E, Rn 6.
[4] OLG Nürnberg v. 27.2.1975 – VersR 1975, 897.
[5] Vgl. OLG München v. 27.10.1981 – 9 U 2188/81, VersR 1983, 127.
[6] Beckmann-Mangen, § 47 Rn 11.

2. Subjektive Komponente

 

Rz. 8

In der sprachlichen Bedeutung des Wortes "Plötzlich" ist (in der Regel) auch das subjektive Moment des Überraschenden und Unerwarteten enthalten. Der BGH hat dies berücksichtigt und den Versicherungsschutz auf solche Ereignisse erstreckt, die zwar nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums eingetreten sind, deren Eintritt für den Betroffenen aber unerwartet war.[7] Die subjektive Komponente des Begriffs der Plötzlichkeit soll also nicht etwa vorhergesehene Ereignisse, die sich innerhalb eines kurzen Zeitraums verwirklichen, aus dem Begriff des Plötzlichen ausschließen.

Der Gesichtspunkt des Überraschenden bzw. Nichtvorhergesehenen kommt in der Rechtsprechung zugunsten der VP vornehmlich in den Konstellationen zum Tragen, in denen der VP wegen eines für sie unerwarteten und unvorhergesehenen Ereignisses die Handlungs- und Steuerungsfähigkeit genommen wird und sie dadurch einer allmählichen Einwirkung ausgesetzt wird, die für sie unentrinnbar ist.

 

Rz. 9

 

Hinweis

Wenn sich das objektive Geschehen innerhalb eines kurzen Zeitraums verwirklicht hat (die zeitliche Komponente also gegeben ist), ist das Geschehen stets "plötzlich" im Sinne des Unfallbegriffs.[8] Es muss also nicht noch (kumulativ)

die subjektive Komponente des Unerwarteten oder Unerkennbaren hinzutreten.[9] Liegt ein objektiv plötzliches Geschehen vor, kommt es daher auf die Erwartungen und Vorstellungen des Betroffenen an dieser Stelle nicht mehr an.[10]

Umgekehrt kann das subjektive Element den Versicherungsschutz nicht in der Art erweitern, dass bei dessen Vorliegen das objektiv zeitliche Merkmal keine Bedeutung mehr hätte. Die Grenze muss im Einzelfall unter Berücksichtigung des Normzwecks gezogen werden, die VP vor den Folgen von Ereignissen zu schützen, die von außen innerhalb eines Zeitraums wirken, der zu kurz ist, um der schädigenden Einwirkung auszuweichen oder ihr wirksam zu begegnen.[11] Insbesondere durch langjährige Tätigkeiten erworbene Berufs- und Gewerbekrankheiten entstehen nicht plötzlich im Sinne des Unfallbegriffs.

 

Rz. 10

Bei Ausübung von Sportarten mit hohem Gefährdungspotenzial bzw. sonstiger schadengeneigter Tätigkeiten wird häufig das subjektive Element des Plötzlichkeitsbegriffes bemüht, um den Versicherungsschutz zu versagen. Dies geschieht meist mit dem Argument, dass den Betroffenen das Ereignis mit Kenntnis der konkreten Gefahrumstände nicht unerwartet treffe. So soll es z.B. bei einem Boxschlag innerhalb eines Boxkampf...

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