I. Allgemeines

 

Rz. 35

Die VP muss die Gesundheitsschädigung unfreiwillig erlitten haben. Dagegen bezieht sich die Unfreiwilligkeit nicht auf das von außen auf den Körper wirkende Ereignis, dem sich die VP auch freiwillig ausgesetzt haben kann, ohne dass der Unfallbegriff entfiele.

Unfreiwillig bedeutet "nicht vorsätzlich", wobei auch der bedingte Vorsatz die Unfreiwilligkeit entfallen lässt. Die Gesundheitsschädigung ist somit bereits freiwillig und ein Unfall liegt nicht vor, wenn die VP die Gesundheitsschädigung zwar nicht will, jedoch billigend in Kauf nimmt.[81] Passives Geschehenlassen (Dulden) trotz Vermeidbarkeit steht dabei aktivem Handeln gleich.[82]

[81] Beckmann-Mangen, § 47, Rn 22 f.; Bruck/Möller-Leverenz, § 178 VVG, Rn 131.
[82] Grimm, Ziff. 1 Rn 39.

II. Fahrlässig geschaffene Gefahrenlage

 

Rz. 36

Es genügt zur Annahme der Unfreiwilligkeit auch das Vorliegen sog. bewusster Fahrlässigkeit. Derjenige, welcher sich bewusst Gefahren aussetzt, erleidet somit eine unfreiwillige Gesundheitsschädigung, wenn er sich diese zwar als möglich vorstellt, aber darauf vertraut, dass sie nicht eintreten wird. Dies gilt auch, wenn er sich bewusst einem hohen Risiko aussetzt, aber darauf vertraut, er werde nicht verunglücken.[83]

 

Beispiel

Die VP injiziert sich vorsätzlich Heroin und stirbt an den Folgen der Dosis. Auch wenn sich die VP bewusst einer Gefahr ausgesetzt hat, liegt Unfreiwilligkeit vor, wenn sie einen glimpflichen Ausgang erhoffte, also den Tod nicht billigend in Kauf genommen hat. Leistungsausschlüsse sind aber zu beachten.

Ein erfahrener Taucher führt an einer Stelle einen Tauchgang durch, an welcher ein Tauchverbot gilt, z.B. nach der Bodensee-Schifffahrts-Ordnung (BSO BO). Der Taucher weiß auch um das Verbot und die Gefährlichkeit seines Handelns. Er wird bei dem Tauchgang verletzt. Eine Freiwilligkeit der Gesundheitsschädigung ließe sich nur dann annehmen, wenn nachzuweisen wäre, dass der Taucher die Verletzung billigend in Kauf genommen hat und nicht auf einen glimpflichen Ausgang des Tauchgangs vertraute.

Eine grob fahrlässige Herbeiführung der Gesundheitsschädigung ist unschädlich, da § 81 VVG n.F. (§ 61 VVG a.F.) auf die private Unfallversicherung keine Anwendung findet; nur vorsätzlich herbeigeführte Schäden führen zum Leistungsausschluss nach § 183 VVG n.F. (§ 181 VVG a.F.).

[83] OLG Zweibrücken, Urt. v. 27.11.1987 – 1 U 26/87, VersR 1988, 288: autoerotische Strangulation.

III. Freiwillig (vorsätzlich) geschaffene Gefahrenlage

 

Rz. 37

Problematisch sind die Fälle, bei denen die VP zunächst die Absicht hatte, sich vorsätzlich zu verletzen (oder zu töten), im weiteren Verlauf jedoch hiervon Abstand nimmt, eine Gesundheitsschädigung aber dennoch eintritt.

Der innere Sinneswandel allein reicht zur Annahme einer Unfreiwilligkeit nicht aus.[84] Ob ein "mentaler" Rücktritt bzw. ein "Rücktritt von der Freiwilligkeit" zur Unfreiwilligkeit führt, hängt vielmehr von der Beherrschbarkeit der freiwillig geschaffenen Gefahrenlage ab. Wenn die VP das freiwillig in Gang gesetzte Geschehen nicht mehr beherrscht, so ist der mental erklärte Rücktritt unbeachtlich.[85] Bleibt hingegen im Anschluss an den Sinneswandel der VP noch genügend Zeit, einer Gesundheitsschädigung zu entgehen, so ist von einer unfreiwilligen Gesundheitsschädigung auszugehen, wenn die Ursache für das Scheitern des Rücktritts sich aus Umständen ergibt, die außerhalb des von ihr in Gang gesetzten Geschehens liegen.[86] Die VP muss selber objektiv noch in der Lage gewesen sein, das Geschehen zu verhindern.[87]

 

Beispiel

Die VP legt sich in Verletzungsabsicht auf Bahnschienen. Bei Herannahen des Zuges nimmt sie von ihrem Vorhaben Abstand, jedoch misslingt ihr das Entkommen, so dass sie der Zug erfasst und sie ein Bein verliert. Nach dem oben Gesagten besteht kein Versicherungsschutz, da die Gesundheitsschädigung freiwillig erfolgte. Anders wäre möglicherweise zu entscheiden, wenn die VP sich noch von den Gleisen lösen konnte und beim Fortlaufen aufgrund einer Bodenunebenheit zu Fall kommt.

 

Rz. 38

Schlägt ein Freitod fehl und führt der Versuch zu Gesundheitsschädigungen, so sind diese regelmäßig freiwillig erlitten. Denn eine Gesundheitsschädigung nimmt die VP als für den Eintritt ihres Todes notwendiges Durchgangsstadium zumindest billigend in Kauf.[88] Dies gilt unabhängig davon, ob der nach einem gescheiterten Freitod eingetretene Zustand (z.B.) der Invalidität in die Vorstellung der VP aufgenommen war oder nicht.[89]

 

Beispiel

Wenn sich die VP in obigem Beispiel mit Selbsttötungsabsicht auf das Gleis legte, so ist der Verlust des Beines freiwillig, da sie als "Durchgangsstadium" zum Tode derart schwere Verletzungen zumindest billigend in Kauf genommen hat.

 

Rz. 39

Soweit die konkret eingetretene Gesundheitsschädigung von der erwarteten Gesundheitsschädigung abweicht, ist Freiwilligkeit dann gegeben, wenn nur eine unwesentliche Abweichung vom geplanten Kausalverlauf vorliegt. Man kann im Übrigen auch in diesen Fällen davon sprechen, dass die VP vorsätzlich ein gesundheitsschädliches Geschehen in Gang gesetzt hat, welches für sie nicht mehr beherrschbar war.

 

Beispi...

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