Rz. 81

Der Nasciturus ist vor der Geburt keine (selbstständige/eigenständige) "dritte Person" i.S.d. Schadenersatzvorschriften, sondern bis zur Geburt Teil einer (dann anderen) Person (Identität mit Mutter).[120] Mutter und Leibesfrucht sind vor der Geburt eine Einheit im haftungsrechtlichen Sinne (nicht: Haftungseinheit).[121] Eine Mitverantwortung der Mutter zum Schadengrund und/oder zur Schadenhöhe führt damit zu einer unmittelbaren Anspruchskürzung auch der Direktansprüche des überlebenden, aber geschädigt Geborenen, selbst wenn man den Unterhaltsmehraufwand als – dann dort zu kürzende – Anspruchsmöglichkeit der Eltern darstellt.[122]

 

Rz. 82

Als Schädigungshandlung der Mutter kommen neben einem mitverschuldeten Unfall auch Nikotingenuss,[123] Rauschmittelmissbrauch, Alkoholabusus, fehlgeschlagener Suizid oder fehlgegangener Abtreibungsversuch in Betracht.

 

Rz. 83

Bei Alleinverantwortlichkeit der Schwangeren hat ihr später dann lebend geborenes Kind keine Ersatzansprüche erworben. Die Eltern können daher ihrerseits auch keine Aufwendungen wegen einer etwaigen Betreuung des Kindes gegen ihren Haftpflichtversicherer[124] verfolgen.[125] Es fehlt am Mehr-Personen-Verhältnis Schädiger – Geschädigter (Haftungsverhältnis), für das der Versicherer dann im Rahmen seiner versicherungsvertraglichen Deckung (Deckungsverhältnis) einzustehen hätte.

 

Rz. 84

Es besteht keine gesamtschuldnerische Verantwortung der sich fehlverhaltenden Mutter mit einem weiteren Schadenersatzpflichtigen. Da es bereits an der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit der Mutter fehlt, kann es damit auch nicht zu einem Gesamtschuldner-Innenausgleich kommen. Mangels Gesamtschuld kommen damit die Grundsätze der gestörten Gesamtschuld (im Hinblick auf das Angehörigenprivileges) gar nicht erst zur Anwendung.[126]

 

Rz. 85

Anzumerken ist, dass gegenüber einem Arzt oder einer anderen – von außen kommenden - schädigenden Person Mutter und das später geschädigt, aber lebend zur Welt gekommene Kind eine Einheit bilden und gemeinsam "Dritte" i.S.d. Schadenersatzvorschriften sind.

[120] Jahnke/Thinesse-Wiehofsky, § 2 Rn 402 ff.; zu den haftungsrechtlichen Problemen siehe Jahnke in Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht 2004, 197 (zu III.9); Jahnke "Mittelbare Betroffenheit und Schadenersatzanspruch" r+s 2003, 89.
[121] OLG Koblenz v. 28.1.1988 – 5 U 1261/85 – ArztR 1989, 61 = NJW 1988, 2959 = VersR 1989, 196; in diesem Sinne OLG Oldenburg v. 14.5.1991 – 5 U 22/91 – ArztR 1992, 11 = MDR 1991, 1140 = NJW 1991, 2355 = NJW-RR 1991, 1377 (nur Ls.); OLG Oldenburg v. 14.5.1991 – 5 U 22/91 – ArztR 1992, 11 = MDR 1991, 1140 = NJW 1991, 2355 = NJW-RR 1991, 1377 (nur Ls.).
[122] Siehe ergänzend BGH v. 17.12.1996 – VI ZR 133/95 – MDR 1997, 353 = MedR 1997, 319 = NJW 1997, 1635 = VersR 1997, 449.
[123] Dazu OLG Oldenburg v. 14.5.1991 – 5 U 22/91 – ArztR 1992, 11 = MDR 1991, 1140 = NJW 1991, 2355 = NJW-RR 1991, 1377 (nur Ls.).
[124] BGH v. 11.1.1972 – VI ZR 46/71 – BGHZ 58, 48 = DB 1972, 433 = FamRZ 1972, 202 = JR 1972, 242 = JZ 1972, 363 (Anm. Stoll) = MDR 1972, 406 = NJW 1972, 1126 = VersR 1972, 372.
[125] Sollte Haftpflichtversicherungsschutz für die Mutter bestehen, wirkt dieser allerdings nicht anspruchsbegründend: BGH v. 27.10.2009 – VI ZR 296/08 – jurisPR-BGHZivilR 1/2010 Anm. 2 (Anm. Ebert) = MDR 2010, 83 = NJW 2010, 537 = NJW-Spezial 2010, 74 = NZV 2010, 74 = r+s 2010, 33 = SP 2010, 64 = SpuRt 2010, 79 = VersR 2009, 1677 = zfs 2010, 133 (Revision zu OLG Celle v. 16.10.2008 – 5 U 66/08 – OLGR 2009, 804 = VersR 2009, 1236 [Anm. Seybold/Wendt]); siehe auch Burmann/Heß/Jahnke/Janker-Jahnke, § 254 Rn 109 ff.
[126] Wichtig ist diese Unterscheidung für den Fall, dass M vorsätzlich handelte (z.B. Selbstmord-/Abtreibungsversuch). Bejahte man eine Verantwortlichkeit der Mutter gegenüber dem Nasciturus, bestünde ein Anspruch nach § 823 BGB; dieser Anspruch würde nach § 116 SGB X z.B. auf einen SVT oder SHT übergehen; das Angehörigenprivileg böte der Mutter keinen Schutz vor Regressnahme.

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