Rz. 226

Ebenso wie im Strafverfahren gilt im Ordnungswidrigkeitenrecht über die §§ 46, 71 OWiG die Amtsaufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO (dazu u.a. OLG Celle, NJW 2010, 3794 = NZV 2010, 634 = VRR 2010, 474 = VA 2011, 13; OLG Hamm, VRR 2010, 474 = VA 2010, 122; Burhoff/Burhoff, HV, Rn 422 ff.; zu den Auswirkungen der Neuregelung des gesetzlichen Messwesens Rothfuß, DAR 2016, 257; Krenberger, DAR 2016, 415; auch Rdn 250), und zwar auch bei sog. standardisierten Messverfahren (OLG Brandenburg, VA 2012, 158 = VRR 2012, 396; Cierniak, zfs 2012, 664 ff.; Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 181). Das AG muss zunächst prüfen, ob der Sachverhalt aufgrund des Akteninhalts hinreichend geklärt ist (s.u.a. OLG Jena VRS 112, 357 zur Frage, wenn in der Verfahrensakte Messprotokoll und Eichschein fehlen). Wird dies verneint, können entweder vor der Hauptverhandlung einzelne Beweiserhebungen angeordnet werden (§ 71 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 OWiG) bzw. behördliche Erklärungen eingeholt werden (§ 71 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 OWiG) oder es wird die Hauptverhandlung anberaumt. Bei ausreichend aufgeklärtem Sachverhalt kann das Gericht – unter den Voraussetzungen des § 72 OWiG – durch Beschluss entscheiden (zum Beschlussverfahren Burhoff/Gieg/Krenberger, OWi, Rn 456 ff.; Burhoff, VA 2009, 14).

 

Hinweis

Es ist darauf zu achten, dass Urkunden verlesen werden. Auch Messprotokolle sind Urkunden. Ihr Inhalt kann also nur durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt werden bzw. es kann auf sie nicht als Abbildung nach § 267 Abs. 1 S. 3 StPO im Urteil nur Bezug genommen werden (OLG Brandenburg, DAR 2005, 97 = StraFo 2005, 120; OLG Düsseldorf, DAR 2013, 82 m. Anm. Staub; OLG Hamm, VA 2008, 52; VA 2012, 139 = VRR 2012, 243 [Ls.]; NStZ-RR 2009, 151 = NZV 2009, 303; NStZ-RR 2009, 151 = NZV 2009, 303; OLG Jena VRS 114, 37; s. aber auch KG, NStZ-RR 2016, 27 = VRS 129, 155 = NZV 2016, 293 = VA 2016, 84). Wird gegen diese Verpflichtung verstoßen, muss das in der Rechtsbeschwerde mit der Verfahrensrüge (Verstoß gegen § 261 StPO; Inbegriffsrüge) geltend gemacht werden (zur deren ordnungsgemäßer Begründung vgl. z.B. u.a. OLG Hamm, NStZ-RR 2009, 151 = NZV 2009, 303).

 

Rz. 227

In der Hauptverhandlung darf in Abweichung vom allgemein geltenden Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 250 StPO) nach § 77a Abs. 1 OWiG die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen durch das Verlesen von Protokollen früherer Vernehmungen sowie von Urkunden ersetzt werden, auch wenn eine gerichtliche Vernehmung möglich wäre. Voraussetzung hierfür ist gem. § 77a Abs. 4 OWiG die Zustimmung aller in der Hauptverhandlung anwesenden Verfahrensbeteiligten. Auch die Verlesung behördlicher Erkenntnisse (§ 77a Abs. 2 OWiG) sowie die Bekanntgabe telefonisch eingeholter Behördenauskünfte (§ 77a Abs. 3 OWiG) ist unter dieser Prämisse statthaft (dazu wegen der Einzelh. Burhoff/Burhoff, HV, Rn 1519 ff.; zur Frage der Anwendbarkeit des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO – bejaht von OLG Hamm, zfs 2014, 650 = VRR 2014, 323 m. Anm. Deutscher, VRR 2014, 323; OLG Koblenz, zfs 2019, 293; Burhoff/Burhoff, HV, Rn 3514 ff.), nicht jedoch eine telefonische Zeugenvernehmung (OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.6.2019 – (2 B) 53 Ss-OWi 252/19 [111/19]). Trotz der Erleichterungen hat das Gericht aber im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht zu prüfen, ob sich zur Aufklärung der Wahrheit eine unmittelbare Beweisaufnahme aufdrängt bzw. diese nahe liegt (BGH, NStZ 1988, 37; zur sich aus dem Recht auf konfrontative Befragung ergebenden Verpflichtung zur Anhörung des Sachverständigen OLG Düsseldorf, zfs 2008, 704 = VA 2009, 49).

 

Rz. 228

Den Umfang der Beweisaufnahme bestimmt auch im OWi-Verfahren das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen. Dabei hat es auch die Bedeutung der Sache zu berücksichtigen (§ 77 Abs. 1 S. 2 OWiG), sodass Wert und Nutzen eines Beweismittels einfließen. Die Verpflichtung zur Wahrheitserforschung von Amts wegen nach § 77 Abs. 1 S. 1 OWiG bedeutet, dass den Betroffenen weder eine Darlegungs- oder Beweislast noch eine Mitwirkungspflicht trifft (OLG Celle, NJW 2010, 3794 = NZV 2010, 634 = VRR 2010, 474 = VA 2011, 13; OLG Düsseldorf, NJW 1992, 1521; OLG Hamm, DAR 2000, 581 = VRS 99, 285 = NZV 2001, 390; VRR 2010, 474 = VA 2010, 122; OLG Koblenz, DAR 1987, 296).

 

Rz. 229

Die Reichweite der Aufklärungspflicht bemisst sich danach, ob die Sachlage – nach Akteninhalt und bisherigem Verfahrensablauf – zur Erhebung weiterer Beweise drängt oder diese zumindest nahe legt. So kann z.B. die Feststellung, ob der auf einem Frontfoto abgelichtete Fahrer mit dem Betroffenen identisch ist, nicht der Einschätzung eines Polizisten, also eines Zeugen überlassen bleiben; hier muss sich das Gericht selbst von den verfahrenserheblichen Umständen überzeugen (OLG Stuttgart, VRS 62, 459; zur Aufklärungspflicht bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung OLG Celle, NJW 2010, 3794 = NZV 2010, 634 = VRR 2010, 474 = VA 2011, 13, OLG Hamm, VRR 2010, 474 = VA 2010, 122; Burhoff/Burhoff, HV, Rn 1528; zu den Auswirkungen der Neuregelung des gesetzlichen Messwesens a...

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