Rz. 157

Alle Entscheidungen aus der Vergangenheit haben gezeigt, dass die Schwachstelle von Patientenverfügungen darin besteht, dass sie im Zweifelsfalle nicht hundertprozentig auf die "aktuelle Lebens- und Behandlungssituation" des Patienten i.S.v. § 1827 Abs. 1 BGB (§ 1901a Abs. 1 BGB a.F.) passen. Also muss die Erklärung des Patienten nach den allgemein gültigen Regeln ausgelegt werden. Es ist zu klären, was der Patient gemeint hat. Und wenn sich das nicht sicher feststellen lässt: Was hätte er mutmaßlich gewollt?

 

Rz. 158

Hierzu fordert die Medizin, dass der medizinische Laie nicht nur das Recht, sondern auch die moralische Pflicht habe, sich dem Fachmann als Mensch mit einem eigenen Werte-Wunsch-Angst-Erwartungsprofil vorzustellen.[204] Das entspricht der Rechtsprechung des BVerfG wonach die medizinische Versorgung nicht nur gute Diagnose und Anamnese voraussetzt, sondern auch die Integration des Werte-Wunsch-Angst-Profils des Patienten in die medizinische Diagnose, Prognose und Therapie. Verlangt wird – soweit möglich – der von Seiten des Patienten mitverantwortlich geführte Dialog.[205] Das entspricht § 630c Abs. 1 BGB.

 

Rz. 159

Da die Patientenverfügung das vorweggenommene Gespräch mit dem Arzt der Zukunft und insoweit antizipierte Einwilligungs- bzw. Verweigerungsentscheidungen des Mandanten enthält, ist es m.E. nach unabdingbar, diese Forderung auch bei der Gestaltung der Patientenverfügung zu beachten, auch, um sie auf Dauer anwendbar zu halten. Sie ist das Herzstück einer Patientenverfügung. Hier ist die entscheidende Arbeit des Anwalts zu leisten, die man durch den nachfolgenden Vorspann einleiten kann.

 

Rz. 160

Muster 3.19: Vorspann

 

Muster 3.19: Vorspann

Meine Grundsituation, Erfahrungen und persönliche Einstellung – Anhaltspunkte für meinen mutmaßlichen Willen

Ich weiß, dass man nicht jede Situation genau vorhersehen und regeln kann. Trotzdem sollen meine Vorstellungen, wie ich ärztlich und pflegerisch behandelt oder nicht behandelt werden will, so weit wie möglich umgesetzt werden. Dazu lege ich nachfolgend meine Erfahrungen, Vorstellungen und Werte dar, die Ausdruck meiner Persönlichkeit, Grundeinstellungen und Motive sind. Sie müssen herangezogen werden, um notfalls meinen mutmaßlichen Willen zu ermitteln.

 

Rz. 161

Der Ausgestaltung von evtl. Behandlungswünschen und der Ermittlung von Anhaltspunkten für die Festlegung eines mutmaßlichen Willens in einer "Patientenverfügung im weiteren Sinne" sind sodann besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der mutmaßliche Wille ist die schwächste Grundlage für ein hinreichend sicheres Handeln von Arzt und Betreuer/Bevollmächtigtem. Er ist ein Konstrukt. Vorverständnis, Ängste, Bedürfnisse und Interessen der jeweils Beteiligten fließen ein und können damit zur Richtschnur für den Patientenwillen werden. Ziele, Interessen, Werte, Vorverständnis, Ängste und Bedürfnisse des Patienten sind deshalb in einem Patientenverfügungsdokument herauszuarbeiten. Das Gesetz verlangt, dass insbesondere frühere mündliche und schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen oder sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betroffenen zu berücksichtigen sind. Insbesondere die religiöse Ausrichtung kann den Inhalt einer Patientenverfügung bestimmen.[206]

 

Rz. 162

Die Frage nach der Definition der individuellen Lebensqualität des Verfügenden ist hilfreich, um Daten für die Bildung eines mutmaßlichen Willens zu sammeln. Er ist untrennbar verbunden mit dem Einleitungssatz, wie er in Rdn 94 formuliert ist. Der Begriff der Lebensqualität ist eng verbunden mit dem Begriff der Zufriedenheit. Dieser hängt häufig davon ab, wie Menschen ihr Leben sehen und beurteilen, welche Grundeinstellungen sie haben. Sieht man z.B. die möglicherweise eintretenden Veränderungen unter dem Gesichtspunkt des Defizits und nicht unter dem Gesichtspunkt dessen, was verbleibt, wird man Lebensqualität eher verneinen. Wertet man positiv, was bleibt, dann wird die Entscheidung eher zum "Weiterleben" fallen.

[204] Süß, Patientenverfügungen: Werte, Wünsche, Ängste, Ärzteblatt 2009, 106, A-2358.
[205] BVerfG, Beschl. v. 25.7.1979 – 2 BvR 878/74, NJW 1979, 1925.
[206] Zu den unterschiedlichen Sichtweisen bei der Organspende vgl. z.B.: www.oganspende-info.de.

(1) Wunsch-Werte-Profil I: Biografisches

 

Rz. 163

Um das vom BVerfG geforderte "Wunsch-Werte-Profil" zu erstellen, gibt es keinen Königsweg. Optimal ist, wenn der Mandant mit anwaltlicher Anleitung hier seine eigenen Worte findet. Hilfreich ist oft ein Einstieg über die Biographie des Mandanten, in der die Persönlichkeit, die Erfahrungen und aktuelle Lebenssituation herausgearbeitet werden können. Insbesondere Menschen, die es gewohnt sind, verantwortlich zu entscheiden, die Kontrolle über die Dinge zu haben und sie zu behalten und die Selbstbestimmung für sich für einen existentiellen Wert halten, können sich in einer solchen Vorgehensweise gut wiederfinden.

 

Rz. 164

Unsichere und leicht beeinflussbare Menschen können hier erkannt und motiviert werden, selbst etwas zu entwickeln oder auch Abstand zu nehmen ...

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