Rz. 173

Bei der Bildung eines mutmaßlichen Willens für oder gegen das Leben, geht darum festzustellen, wie der Betroffene mit dem Argument umgeht, dass man eigentlich erst dann wirklich sicher sein kann, wie man sich entscheidet, wenn man die konkrete Situation erlebt. Mediziner wenden häufig ein, dass Menschen oft meinten, ein Leben sei für sie nicht mehr lebenswert, z.B. wenn sie im Rollstuhl säßen. Wären sie aber in einer solchen Situation, dann könnten sie sich oft erstaunlich gut mit der Situation arrangieren und wären froh, dass man sie nicht habe sterben lassen.

 

Rz. 174

Das ist eine – paternalistische und damit m.E. nicht mehr zutreffende – Sicht der Dinge. Andere sehen dies deshalb zu Recht völlig anders und bestehen auf ihr Recht, die Erfahrung, ob sie sich eines anderen besinnen, keinesfalls machen zu wollen. Der Gesetzgeber unterstützt die Zulässigkeit dieser Sichtweise mit einem Recht auf eine Patientenverfügung ohne Reichweitenbegrenzung, das verfassungsrechtlich durch die MRK "unterfüttert" ist mit den Sätzen:

Zitat

"Der Staat hat nicht das Recht, den zur freien Willensbestimmung fälligen Betroffenen zu erzielen, zu bessern oder zu hindern, sich selbst zu schädigen."[207]
"Das Recht des Einzelnen, darüber zu entscheiden, wie und wann er sein Leben beenden möchte – sofern er diesbezüglich zu einer freien Willensbildung in der Lage und fähig ist, entsprechend zu handeln stellt einen Aspekt des Rechts auf Achtung der Privatsphäre nach Art. 8 der MRK dar."[208]
 

Rz. 175

Es geht also darum herauszufinden, unter welchen Voraussetzungen ein Mandant behandelt und wann er nicht mehr behandelt werden will. Wann würde er eine Entscheidung zu Gunsten, wann eine Entscheidung gegen das Leben treffen? In vielen Fällen ist das Kriterium die Lebensqualität. Je nach Religion kann es aber auch sein, dass die Lebensqualität keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt. Das ist herauszuarbeiten.

 

Rz. 176

Für viele Mandanten ist ein gutes Leben gleichbedeutend mit "wahrnehmen können" und "selbst wahrgenommen zu werden" Der Ausfall aller oder nahezu aller Sinne – nicht mehr mit allen Sinnen am Leben teilhaben können – wird von vielen Mandanten als Verlust der Lebensqualität gesehen. Nicht mehr kommunizieren und am Leben anderer Menschen teilhaben zu können – und sei es auch nur nonverbal – wird von vielen als das Ende ihrer eigenen sinnhaften Existenz definiert, als "ich will nicht von anderen gelebt werden".

 

Rz. 177

Muster 3.24: Wunsch-Werte-Profil – Entscheidungskriterien

 

Muster 3.24: Wunsch-Werte-Profil – Entscheidungskriterien

Als Maßstab in Zweifelsfragen meiner Behandlung/Nichtbehandlung sehe ich die Antwort auf die Frage an, "unter welchen Voraussetzungen besteht für mich noch Lebensqualität?"

Z.B.: Lebensqualität geht nicht schon durch körperliche Einschränkungen verloren. Ein Rollstuhl wäre daher noch akzeptabel, aber _________________________.
Z.B.: Lebensqualität ist für mich wesentlich davon abhängig, mein Leben und meinen Tagesablauf noch einigermaßen selbst bestimmt leben zu können. Dazu gehören der Kontakt und der Austausch mit dem Partner, Kommunikationsfähigkeit und -möglichkeit. Es ist essentiell, noch selbst Einfluss auf die eigenen Lebensumstände nehmen zu können.
Z.B.: Ein Zustand der totalen Hilflosigkeit, beziehungsweise der kompletten Abhängigkeit von anderen, ist für mich kein lebenswerter Zustand.
Z.B.: Ein Zustand, bei dem ich auf Dauer nur noch im Bett liegen muss, ist für mich _________________________.
Z.B.: Ein Zustand unbeherrschbarer Schmerzen bedeutet für mich _________________________.
[208] EGMR, Urt. v. 19.7.2012 – 497/09 (Koch/Deutschland), NJW 2013, 2953 Rn 51 f. unter Berufung auf EGMR, Urt. v. 20.1.2011 – 31322/07 (Haas/Schweiz), NJW 2014, 3773 Rn 50 f und auf EGMR, Urt. v. 30.9.2014 – 67810/10 (Grass/Schweiz), NJW 2016, 143, Rn 58 f.

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