Rz. 581

Bei der Wiederherstellung des Nachrangs unterscheidet man zwischen echter und unechter sozialhilferechtlicher Erbenhaftung.

Die echte sozialhilferechtliche Erbenhaftung ist in § 102 SGB XII geregelt, der mittlerweile fast "allein auf weiter Flur"[955] steht, weil eine solche Erbenhaftung

in anderen nachrangigen Gesetzen nicht vorgesehen ist
in § 35 SGB II in 2016 aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung[956] abgeschafft wurde
in das Eingliederungshilferecht des SGB IX seit 1.1.2020 nicht mehr aufgenommen wurde[957]
in § 102 SGB XII die Erbenhaftung für Leistungen der Grundsicherung (§§ 41 ff. SGB XII) und der vor dem 1.1.1987 entstandenen Tuberkulosehilfe ausgeschlossen ist.

Die sozialhilferechtliche Erbenhaftung ist daher heute nur noch ein Rudiment, das sich trotz Petitionsverfahren[958] und gerichtlicher Streitverfahren gehalten hat. Die Effektivität der Norm bewegt sich im untersten Bereich.[959]

[955] Verweisung gibt es über § 1908i bei § 1836e Abs. 1 S. 3 SGB XII.
[956] BR-Drucks 66/16, 50; vgl. hierzu BT-Drucks 18/8041, 47, 88.
[957] Vgl. BR-Drucks 196/1/19 v. 27.5.2019 (Empfehlungen der Ausschüsse), 7.
[958] Deutscher Bundestag, Petitionsausschuss, Petition 55294.
[959] Landtag des Saarlandes, Drs. 15/1633 (15/1564), 2.

1. Die echte sozialrechtliche Erbenhaftung nach § 102 SGB XII

 

Rz. 582

Bezieher von Leistungen nach SGB XII können unter bestimmten Umständen selbst zu den Erblassern mit werthaltigem Nachlass gehören. Das ist immer dann der Fall, wenn ihnen lebzeitig "Schutzschirme" für den Einsatz und die Verwertbarkeit ihres Einkommens oder Vermögens zugutegekommen sind und diese Mittel bis zu ihrem Tod "sozialhilfefest" waren.

Damit diese Schutzvorschriften zugunsten der Leistungsbezieher im Wege der Erbfolge nicht auch deren Erben zu Gute kommen und sich dort als Erbenschutzvorschrift[960] auswirken, hat der Gesetzgeber mit dem 2. Gesetz zur Änderung des BSHG vom 14.8.1969[961] durch § 92c BSHG eine sogenannte echte Erbenhaftung für die Kosten der Sozialhilfe eingeführt. Diese Regelung wurde nach einigen Veränderungen in § 102 SGB XII übernommen, denn "die Vorschriften über nicht einzusetzendes Vermögen (§§ 90, 91 SGB XII) dienen allein dem Schutz des Sozialhilfeberechtigten, nicht aber dem seiner Erben. Dies wird durch Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte der Norm bestätigt. … § 102 SGB XII bezweckt im öffentlichen Interesse in erster Linie eine möglichst umfassende Refinanzierung aufgewendeter Sozialhilfekosten bzw. der Wiederherstellung des Nachrangs der Sozialhilfe."[962]

 

Rz. 583

§ 102 SGB XII regelt, dass

der Erbe der leistungsberechtigten Person
oder der Erbe ihres Ehegatten oder ihres Lebenspartners, falls diese vor der leistungsberechtigten Person sterben,
vorbehaltlich des Absatzes 5
zum Ersatz der Kosten der Sozialhilfe verpflichtet ist,
die innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren vor dem Erbfall aufgewendet worden sind und die das Dreifache des Grundbetrages nach § 85 Abs. 1 SGB XII übersteigen.

Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sind nach § 102 Abs. 5 SGB XII von der Erbenhaftung ausdrücklich ausgenommen.

[960] Vgl. BT-Drucks V/3495.
[961] BGBI I, 1153 ff.

a) Verfassungsgemäß?

 

Rz. 584

Verfassungsrechtlich ist die Einführung einer solchen Kostenersatznorm dem Grunde nach nicht zu beanstanden, da die Erbrechtsgarantie nicht das (unbedingte) Recht gewährleistet, den Eigentumsbestand von Todes wegen ungemindert auf Dritte zu übertragen.[963] Allerdings ist fraglich, ob sich angesichts der Abschaffung der Erbenhaftung in § 35 SGB II, der Ausnahmen zur Erbenhaftung in § 102 Abs. 5 SGB XII selbst und der Nichtaufnahme der sozialhilferechtlichen Erbenhaftung in die Eingliederungshilfe des SGB IX die Ungleichbehandlung zu den verbliebenen Fällen noch begründen lässt. Warum haften die Erben, wenn der Leistungsbezieher seine Existenz durch Hilfe zum Lebensunterhalt statt durch Grundsicherung sichern musste? Hinsichtlich eines aus einer selbstbewohnten Immobilie bestehenden Schonvermögens führt die Differenzierung nämlich zu dem eigenartigen Ergebnis, dass dauerhaft voll erwerbsgeminderte und über 65-jährige Leistungsbezieher von Grundsicherungsleistungen dieses Schonvermögen ohne weiteres vererben können, zeitweise voll Erwerbsgeminderte aber nicht.

Warum wird vom überlebenden Ehegatten kein Kostenersatz verlangt, von seinen Erben, falls er vorverstirbt aber schon?

 

Rz. 585

Die Beispiele zeigen, dass das Nachrangprinzip in den Systemen der sozialen Sicherung nicht konsequent durchgehalten ist und letztendlich das Problem des Erbens in Familien mit Beziehern nachrangiger Sozialleistungen nicht mehr wirklich durchdacht und normiert ist. Die Ergebnisse wirken jedenfalls beliebig.[964]

[963] BVerfG v. 22.6.1995 – Az.: 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, 174; BVerfG v. 28.10.1997 – Az.: 1 BvR 1644/94, NJW 1998, 743; ausführlich Oestreicher/Decker, SGB II/SGB XII, § 102 Rn 15, 16.
[964] Ebenso Bieritz-Harder/Conradis/Thie/Conradis, LPK-SGB XII, § 102 Rn 21.

b) Erbe nach einem Sozialhilfebezieher – warum geht das überhaupt?

 

Rz. 586

Ein...

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