Rz. 64

Für die Praxis bedeutet dies Dreierlei:

(1) Negative Folgen einer unionsrechtswidrigen Konzernüberlassung sind überhaupt nur dort denkbar, wo die Überlassung zugleich auch mit einer Nichteinhaltung zwingender Vorgaben der Leiharbeitsrichtlinie verbunden ist.[108] Dieser Aspekt ist insbesondere von Bedeutung, wenn der im Konzern überlassene Arbeitnehmer im Hinblick auf die wesentlichen Arbeitsbedingungen nicht schlechter steht als die Arbeitnehmer im entleihenden Konzernunternehmen. Unerheblich ist aus unionsrechtlicher Sicht etwa in jedem Fall die Nichtbeachtung von solchen Vorschriften des AÜG, die ihren Ursprung nicht in der Leiharbeitsrichtlinie, sondern allein im deutschen Überlassungsrecht haben (z.B. Erlaubnispflicht,[109] Vorgaben der deutschen Höchstüberlassungsgrenze,[110] Konkretisierungsgebot,[111] Streikbrecherverbot[112]). Insoweit die Ausgestaltung des deutschen AÜG im Konzern unionsrechtswidrig sein sollte, schließt sich zudem die bisher ungeklärte Folgefrage an, ob dies in Ermangelung einer unmittelbaren Anwendbarkeit von europäischen Richtlinien überhaupt direkte Folgen für die davon betroffenen Unternehmen hätte oder nicht vielmehr zunächst den deutschen Gesetzgeber verpflichten würde, das AÜG entsprechend den unionsrechtlichen Vorgaben anzupassen.[113]
(2) Es spricht viel dafür, das Tatbestandsmerkmal "nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und beschäftigt" aus § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG auch mit Rücksicht auf die Leiharbeitsrichtlinie auszulegen und etwaige unionsrechtliche Risiken – insbesondere im Kontext des zentralen Grundsatzes der Gleichbehandlung – bei einer (nach deutschem Recht stimmigen) extensiven Auslegung des Konzernprivilegs mit einzupreisen. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG im Rahmen rechtsträgerübergreifender Personaleinsätze generell aufgrund der unionsrechtlich nicht abschließend geklärten Rechtslage auszuklammern, geht allerdings einen Schritt zu weit.
(3) Ferner gilt es die gegenwärtige Entscheidungspraxis der EuGH – etwa das anhängige Verfahren zur Bereichsausnahme im öffentlichen Dienst[114] – weiterhin gewissenhaft zu beobachten. Die gegenwärtig regierende Ampelkoalition hat Änderungen im Bereich des AÜG nämlich nur für den Fall angekündigt, bei dem sie durch die Entscheidungspraxis des EuGH dazu veranlasst wird.[115] Eine vom EuGH unabhängige Modifikation des Konzernprivilegs ist daher auch in der aktuellen Legislaturperiode nicht zu erwarten. Der deutsche Gesetzgeber geht vielmehr weiterhin von der Vereinbarkeit des Konzernprivilegs mit dem Unionsrecht aus.
[108] Vgl. HK-AÜG/Ulrici, § 1 AÜG Rn 175; so auch im Ergebnis Schüren/Hamann/Hamann, 6. Aufl. 2022, § 1 AÜG Rn 638, welcher § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG im Übrigen für unionsrechtswidrig hält.
[109] HK-AÜG/Ulrici, § 1 AÜG Rn 175; Ulber/J. Ulber, AÜG, § 1 Rn 414; Hamann, ZESAR 2012, 103.
[110] Vgl. EuGH v. 17.3.2022 – C-232/20, NZA 2022, 549 (insb. zur Missbrauchskontrolle); EuGH v. 14.10.2020 – C-681/18, NZA 2020, 1463; Pant, Gesetzliche und kollektivvertragliche Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung durch Höchstüberlassungszeiten, S. 127.
[111] Thüsing/Waas, § 1 AÜG Rn 121 ff.; Ulber/Ulber, AÜG-Basis, § 1 Rn 326 ff.
[112] BT-Drucks 18/9232, 27.
[113] Dazu etwa HK-AÜG/Ulrici, § 1 AÜG Rn 175.
[115] Koalitionsvertrag von SPD/FDP/Grüne, Mehr Fortschritt wagen, S. 70.

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