Rz. 29

Führt die rechtliche Analyse der vertraglichen Vereinbarungen zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer zur Annahme eines Werk- oder Dienstvertrages oder lässt sie zumindest Raum für eine entsprechende Auslegung, so ist in einem zweiten Schritt zu überprüfen, ob die tatsächliche Durchführung des Vertrages auch im Einklang mit diesen Vorgaben erfolgt. Wie bereits dargelegt, ist die tatsächliche Durchführung anhand der Kriterien der §§ 1 Abs. 1 S. 2 AÜG, 611a BGB daraufhin zu überprüfen, ob der als Erfüllungsgehilfe eingesetzte Arbeitnehmer nicht faktisch wie ein Zeitarbeitnehmer behandelt worden ist. Hat der Auftraggeber das Fremdpersonal wie eigenes Personal eingesetzt, so liegt eine "verdeckte" Zeitarbeit vor, die zugleich nach § 9 Abs. 1 Nr. 1a i.V.m. § 10 Abs. 1 AÜG die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses mit dem Auftraggeber auslöst. Das entspricht im Wesentlichen der bisherigen Rechtsprechungslinie. Die Rechtsprechung grenzt die Personalgestellung auf der Grundlage eines Dienst- oder Werkvertrages von der Arbeitnehmerüberlassung schon bislang nach denselben Kriterien ab, die auch für die Abgrenzung des Arbeitnehmers vom Soloselbstständigen entwickelt wurden. Anhand der nunmehr auch von § 611a Abs. 1 S. 5 BGB verlangten Gesamtwürdigung aller maßgebenden Umstände des Einzelfalls ist danach zu ermitteln, welche Gestaltung von den Parteien tatsächlich gewollt ist und dementsprechend umgesetzt wird.

 

Rz. 30

Die Gesamtwürdigung läuft normativ letztlich darauf hinaus, die Arbeitsleistung entweder der Wertschöpfung des Auftraggebers (Arbeitnehmerüberlassung) oder derjenigen des Auftragnehmers (sonstiger Fremdpersonaleinsatz) zuzuordnen.[60] In der Literatur wurde vorgeschlagen, eine Abgrenzung direkt anhand dieser Frage vorzunehmen.[61] Dieser Vorschlag kann für die Rechtspraxis allerdings nur bedingt fruchtbar gemacht werden. Zwar kann eine solche ökonomische Betrachtung den Blick für die zutreffende Bewertung und Gewichtung der maßgeblichen Indizien schärfen – um diese zu ersetzen, ist der Ansatz aber zu ungenau.[62] Insbesondere etwa bei der vollständigen Übertragung des Weisungsrechts auf den Auftraggeber trotz wirtschaftlichen Interesses des Auftragnehmers am Arbeitsergebnis würde es ggf. zu abweichenden Ergebnissen kommen, die den gesetzlichen Wertungen nicht entsprechen. Der Rechtsanwender wird einer detaillierten Betrachtung der anerkannten Indizien weiterhin nicht entgehen können.

 

Praxishinweis

Weder kann aus einem einzelnen Indiz, wie z.B. dem Arbeiten mit fremden Arbeitsmitteln, auf Arbeitnehmerüberlassung geschlossen werden, noch rechtfertigt umgekehrt das Fehlen eines entsprechenden Indizes den Schluss auf einen Personaleinsatz auf der Grundlage eines Werk- oder Dienstvertrages. Pauschalisierungen, wie "das Arbeiten mit fremden Arbeitsmitteln deute immer auf Arbeitnehmerüberlassung hin", sind unzutreffend.

Sprechen einzelne Indizien für eine Arbeitnehmerüberlassung, müssen diese stets darauf überprüft werden, ob sie nur deswegen erfüllt sind, weil sich dies bereits aus der Natur bzw. den Umständen der Tätigkeit ergibt (Bsp.: Zeitungszusteller, der an ein morgendliches Zeitfenster der Auslieferung gebunden ist), ohne dass es einer entsprechenden Weisung überhaupt bedürfte.

[60] Vgl. auch § 4 Abs. 1 des österr. Arbeitskräfteüberlassungsgesetzes; dieses bezeichnet den "wahren wirtschaftlichen Gehalt" als Beurteilungsgrundlage. Da eine zutreffende und richtlinienkonforme Abgrenzung anhand dieser Generalklausel schwerfällt, hat der dortige Gesetzgeber in Abs. 2 konkretisierende Kriterien normiert.
[61] Willemsen/Mehrens, NZA 2019, 1473.
[62] Schaub/Koch, § 120 Rn 14, lehnt den Ansatz ebenfalls ab.

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