Rz. 1

Die allermeisten arbeitsrechtlichen Streitigkeiten finden bereits in 1. Instanz ihren rechtskräftigen Abschluss. Die Anzahl der eingereichten Berufungen liegt regelmäßig unter 5 % der erstinstanzlich eingereichten Klagen.[1] Aus dem Umstand, dass Bestandsstreitigkeiten in 2. Instanz lediglich einen Anteil von rd. 42 % an den Erledigungen insgesamt haben, in 1. Instanz hingegen einen Anteil von 62 %,[2] lässt sich schließen, dass die Parteien – insbesondere die Arbeitgeber – bestrebt sind, Kündigungsschutzprozesse möglichst noch vor dem Arbeitsgericht zu beenden. Gerade bei tatsächlich und/oder rechtlich komplexen Kündigungsschutzsachen und bei Auseinandersetzungen, bei denen es um gut bezahlte Arbeitsverhältnisse geht, endet der Streit aber oft nicht in erster Instanz.

[1] Vgl. Ergebnisse der Statistik der Arbeitsgerichtsbarkeit 2020: 332.407 eingereichte Klagen (Tätigkeit der Arbeitsgerichte Nr. 12) und 14.262 eingereichte Berufungen (Tätigkeit der Landesarbeitsgerichte Nr. 12), was 4,3 % entspricht.
[2] Vgl. Ergebnisse der Statistik der Arbeitsgerichtsbarkeit 2020: 332.957 erledigte Klagen (Tätigkeit der Arbeitsgerichte Nr. 142), darunter 206.163 Bestandsschutzstreitigkeiten (Nr. 1433), was rd. 62 % entspricht; andererseits 13.725 erledigte Berufungen (Tätigkeit der Landesarbeitsgerichte Nr. 14), darunter 5.754 Bestandsschutzstreitigkeiten (Nr. 141), was rd. 42 % entspricht.

I. Statthaftigkeit der Berufung

 

Rz. 2

Das Rechtsmittel gegen ein streitiges Endurteil des Arbeitsgerichts ist die Berufung. In welchen Fällen die Berufung statthaft ist, regelt § 64 Abs. 2 ArbGG. § 64 Abs. 2 Buchst. c ArbGG eröffnet die Berufung unabhängig von Wert und Zulassung für Rechtsstreitigkeiten über das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses.

II. Beschwer

1. Formelle Beschwer

 

Rz. 3

Die zulässige Berufung setzt voraus, dass der Berufungsführer durch das arbeitsgerichtliche Urteil beschwert ist. Eine formelle Beschwer liegt vor, wenn und soweit das Urteil dem jeweiligen Rechtsschutzbegehren nicht gefolgt ist. Maßgeblicher Bezugspunkt sind dabei die zur Entscheidung gestellten Anträge.[3] So kann die obsiegende Partei mangels Beschwer nicht allein mit dem Ziel Berufung einlegen, die Klage in der 2. Instanz noch zu erweitern[4] oder zu ändern.[5] Umgekehrt wird die Berufung mangels Beschwer unzulässig, wenn nach teilweiser Berufungs- oder Klagerücknahme nur noch erstmals in der Berufungsinstanz zur Entscheidung gestellte Streitgegenstände übrig bleiben.[6]

[3] BAG v. 23.6.1993, NZA 1994, 265.
[4] BGH v. 20.9.1983, VersR 1983, 1160.

2. Beschwer bei Auflösungsanträgen

 

Rz. 4

Mangels formeller Beschwer ist es dem im Kündigungsschutzprozess obsiegenden Arbeitnehmer verwehrt, nur deshalb Berufung einzulegen, um in der 2. Instanz erstmals einen Auflösungsantrag nach §§ 9, 10 KSchG zu stellen[7] (zur Möglichkeit der Anschlussberufung siehe auch Rdn 113 f.). Auch kann der Arbeitnehmer, dessen Auflösungsantrag stattgegeben worden ist, nicht Berufung einlegen, nur um den eigenen Auflösungsantrag wieder zurückzunehmen und die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu erreichen.[8] Eine Partei ist auch nicht allein deshalb beschwert, weil bei von beiden Seiten gestellten Auflösungsanträgen das Gericht das Arbeitsverhältnis auf Antrag der anderen Partei auflöst.[9]

 

Rz. 5

Zwar führt ein Auflösungsantrag nach zutreffender Auffassung nicht zu einer Streitwerterhöhung.[10] Eine Beschwer liegt jedoch vor, wenn ein Auflösungsantrag schon dem Grunde nach abgewiesen wird.[11] Gleiches gilt im umgekehrten Fall für die Partei, die sich gegen einen gegnerischen Auflösungsantrag gewehrt und verloren hat. Bleibt das Arbeitsgericht bei einem Auflösungsantrag hinter einem vom Arbeitnehmer angegebenen Mindestbetrag zurück oder überschreitet es – bei arbeitgeberseitigem oder beidseitigem Auflösungsantrag – eine vom Arbeitgeber genannte Höchstabfindungssumme, ist ebenfalls die notwendige Beschwer zu bejahen, soweit die Differenz zwischen beantragter und ausgeurteilter Abfindung 600 EUR übersteigt (§ 64 Abs. 2b ArbGG).[12]

 

Rz. 6

Hat die Partei bei ihrem erstinstanzlichen Auflösungsantrag keinerlei bezifferte Vorstellungen über einen von ihr akzeptierten Mindestbetrag (Arbeitnehmer) oder Höchstbetrag (Arbeitgeber) geäußert und hält sie die sodann im Auflösungsurteil ausgeurteilte Abfindung für zu niedrig oder zu hoch, ist ihre Beschwer allerdings zu verneinen.[13] Hängt die Festsetzung eines mit der Klage erstrebten Geldbetrages von der Ausübung billigen Ermessens durch das Gericht ab, lässt die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung zwar ausnahmsweise unbezifferte Zahlungsanträge zu.[14] Zur Kompensation wird aber u.a. gerade verlangt, dass der Antragsteller in seiner Klagebegründung die Größenordnung seiner Vorstellungen, z.B. in Form eines Mindest- oder Höchstbetrags, angibt.[15] Diese Vorstellungen dienen sodann auch der Bestimm...

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