Rz. 50

Dieselben Wertungen sprechen gegen die Sittenwidrigkeit vorheriger Pflichtteilsverzichte eines Sozialleistungsempfängers;[56] erst Recht gegen Leistungskürzungen wegen unwirtschaftlichen Verhaltens gem. § 26 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII (künftiger Pflichtteil ist kein "gegenwärtiges Vermögen") oder Kostenersatzpflichten gem. § 103 SGB XII (kein sozialwidriges Verhalten).[57] Der BGH[58] (ihm folgend die Sozialgerichte[59] und die Finanzgerichte[60]) hat den (auf dem Sterbebett, also mit nur mehr geringem aleatorischem Element, ausgesprochenen) abfindungslosen Pflichtteilsverzicht eines (geschäftsfähigen) Behinderten gegenüber den Eltern, beschränkt auf den ersten Sterbefall,[61] als wirksam erachtet: Allein die Abfindungslosigkeit führe zu keinem Verstoß gegen § 138 BGB; ferner liege kein unzulässiger Vertrag zulasten Dritter vor (sondern nur eine faktisch nachteilige Wirkung auf Dritte), und auch der Nachranggrundsatz des Sozialhilferechts sei bei Behinderten deutlich zurückgenommen und repräsentiere daher keine übergeordnete Wertung, zu deren Verteidigung die Nichtigkeit des Pflichtteilsverzichtes anzuordnen sei.[62] Diese Wertung entspreche dem Grundsatz, dass es einem Übergeber offenstehe, nur solche Versorgungsleistungen zu vereinbaren, die auf dem übernommenen Anwesen selbst erbracht werden können (so dass Leistungsbegrenzungsklauseln für den Fall des Wegzugs nicht sittenwidrig sind, Rdn 43). Ihr stehe auch nicht entgegen, dass der Leistungsbezieher beim Pflichtteilsverzicht (anders als beim Behindertentestament) selbst aktiv an der Gestaltung beteiligt und nicht lediglich der Gestaltung eines Dritten (des Erblassers) unterworfen ist, denn auch die Ausschlagung einer ihm sonst zufallenden Erbschaft hätte er (entgegen OLG Stuttgart und Hamm, Rdn 54) wirksam erklären können (Grundsatz der sog. negativen Erbfreiheit[63]). Schließlich hätten die Eltern den Pflichtteilsanspruch des Verzichtenden auch wirksam durch Einsetzung zum (mit Nacherbfolge und Testamentsvollstreckung) beschwerten Miterben verhindern können, denn eine Überleitung des Ausschlagungsrechtes gem. § 2306 BGB hätte der Sozialleistungsträger (mangels Anspruchsqualität, Rdn 24) nicht bewirken können. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Eltern (unter dem Aspekt der Unterhaltsgewährung aus Einkommen) zu Lebzeiten nur eingeschränkt zum Ausgleich der ihrem behinderten Kind gewährten Leistungen herangezogen werden konnten (§ 94 Abs. 2 SGB XII, Rdn 29); damit wäre es nicht zu vereinbaren, den verbleibenden Elternteil (beim Berliner Testament) postmortal im Weg der Zwangsauszahlung eines Pflichtteilsanspruchs stärker heranzuziehen.

[56] Ebenso Vaupel, RNotZ 2009, 497, 508; Mayer/Littig, Sozialhilferegress ggü. Erben und Beschenkten, S. 103; DNotI-Gutachten, Faxabruf-Nr. 92744 v. 23.3.2009; a.A. Lambrecht, Der Zugriff des Sozialhilfeträgers auf den erbrechtlichen Erwerb, S. 172; Schumacher, Rechtsgeschäfte zulasten der Sozialhilfe im Familien- und Erbrecht, S. 142.
[57] v. Proff, RNotZ 2012, 272, 277.
[58] BGH, 19.1.2011 – IV ZR 7/10, ZEV 2011, 258, m. Anm. Zimmer = NotBZ 2011, 168, m. Anm. Krauß = MittBayNot 2012, 138 m. Anm. Spall. Differenzierend Klühs, ZEV 2011, 15, 18 (bei Behinderten ja, bei Bedürftigen nein).
[60] BFH, 1.9.2020 – II B 16/20, MittBayNot 2022, 190 m. Anm. Odersky (Verzicht auf hohen Pflichtteil gegen ein geringwertiges erbvertragliches Vermächtnis).
[61] Für den Pflichtteilsverzicht auf den zweiten Sterbefall dürfte nichts anderes gelten, vgl. Spall, MittBayNot 2012, 141, 143. Allerdings gilt die vom BGH (Tz. 29) gebilligte Überlegung, der überlebende Elternteil solle von Pflichtteilsansprüchen verschont bleiben, hierfür nicht.
[62] Vgl. § 94 Abs. 2 SGB XII: eingeschränkte Heranziehung der elterlichen Unterhaltspflicht ggü. behinderten Kindern, sowie § 92 Abs. 2 SGB XII: stark zurückgenommene Heranziehung eigenen Einkommens, völlig ausgeschlossene Heranziehung eigenen Vermögens für bestimmte, dort genannte Eingliederungsleistungen.
[63] Kritisch ("kühne Neuerung") Leipold, ZEV 2011, 528; verteidigend v. Proff, RNotZ 2012, 272, 274. Verfassungsrechtlich dürfte die negative Erbfreiheit tatsächlich eher bei Art. 2 GG als bei Art. 14 Abs. 1 GG angesiedelt sein.

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