A. Einleitung

 

Rz. 1

Das unerlaubte Entfernen vom Unfallort, umgangssprachlich Unfallflucht genannt, beschäftigt den Verteidiger nahezu täglich in der Praxis. Es ist die Tendenz zu erkennen, dass die Verfolgungsbehörden und Gerichte oftmals viel zu schnell davon ausgehen, dass Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld vorliegen. Dies mag dem Umstand einer schnellen Aktenbearbeitung geschuldet sein. Tatsächlich dürfte die Unfallflucht nicht nur ein "Massendelikt" sein, sondern auch rechtlich unterschätzt werden. Im Jahre 2018 wurde beim Verkehrsgerichtstag in Goslar im Arbeitskreis III erneut diskutiert, ob § 142 zu ändern sei. Nach Auffassung nicht weniger Juristen ist die Norm nämlich in ihrer Ausgestaltung missglückt.[1]

Aufgabe des Verteidigers ist es, Details herauszuarbeiten und zu problematisieren. Zudem sind hier die Schnittstellen zu anderen Rechtsgebieten zu berücksichtigen, insbesondere zum Versicherungsrecht und dem möglichen Regress des KH-Versicherers. Die Unfallflucht ist eines der umstrittensten und zugleich auch umfangreichsten Delikte, mit dem man, wie einschlägige Literatur zeigt, ganze Bücher füllen kann. Nachfolgend soll auf die wahrscheinlich häufigsten Konstellationen in der Praxis eingegangen werden. Regelmäßig werden sich Ansätze für die Verteidigung im Bereich des objektiven und subjektiven Tatbestands abspielen, so dass sich die Ausführungen hierauf beschränken.

[1] Vgl. die Aufsätze von Ternig, NZV 2018, 10 ff. sowie Fromm, NZV 2018, 5 ff.

B. Der objektive Tatbestand

I. Unfall im öffentlichen Straßenverkehr

1. Begriffsbestimmungen

 

Rz. 2

Es muss ein Unfall im öffentlichen Straßenverkehr geschehen sein.

 

Rz. 3

Unfall ist ein plötzliches Ereignis, welches im Zusammenhang mit den typischen Gefahren des Straßenverkehrs steht und einen nicht ganz unerheblichen Schaden verursacht.[2]

 

Rz. 4

Öffentlicher Straßenverkehr ist der der Fortbewegung dienende Verkehr von Fahrzeugen und Fußgängern auf allen Wegen, Plätzen, Durchgängen und Brücken, die jedermann oder wenigstens allgemein bestimmten Gruppen von Benutzern, wenn auch nur vorübergehend oder gegen Gebühr, zur Verfügung steht.[3] Bereits diese Definition zeigt, dass auch Privatwege öffentlich sein können, wenn deren Benutzung durch einen unbestimmbaren oder zahlenmäßig nicht eng begrenzten Personenkreis vom Berechtigten zugelassen wird.[4]

 

Rz. 5

Demgegenüber findet beispielsweise auf einem Werksgelände dann kein öffentlicher Straßenverkehr statt, wenn der Zutritt lediglich Werksangehörigen und Personen mit nur individueller Erlaubnis möglich ist.[5] So kann sich etwa aus einer entsprechenden Beschilderung als "Privat-/Werksgelände", einer Einfriedung des Geländes und einer Zugangsbeschränkung in Gestalt einer Einlasskontrolle ergeben, dass der Verfügungsberechtigte die Allgemeinheit von der Benutzung des Geländes ausschließen will.[6] Wenn aufgrund solcher Maßnahmen nur einem beschränkten Personenkreis wie den Betriebsangehörigen,[7] wie mit einem besonderen Ausweis ausgestatteten Personen[8] oder wie individuell zugelassenen Lieferanten und Abholern,[9] Zutritt zu dem Betriebsgelände gewährt wird, handelt es sich um eine nicht öffentliche Verkehrsfläche. In diesen Fällen ist der Kreis der Berechtigten so eng umschrieben, dass er aus einer unbestimmten Vielzahl möglicher Benutzer ausgesondert ist.[10]

 

Rz. 6

Muster 22.1: Kein Unfall im öffentlichen Straßenverkehr

 

Muster 22.1: Kein Unfall im öffentlichen Straßenverkehr

In dem Ermittlungsverfahren _________________________

gegen _________________________

wegen _________________________

erfolgt zur Sache nach erfolgter Akteneinsicht die nachfolgende Einlassung:

Es kann dahinstehen, ob mein Mandant tatsächlich der verantwortliche Fahrzeugführer zum Zeitpunkt des Unfalls war und sich nach dem behaupteten Unfallereignis unerlaubt vom Unfallort entfernte. Aus der Ermittlungsakte ergibt sich, dass sich der Unfall ereignet hat auf dem Werksgelände des Automobilherstellers D. Das Werksgelände dürfen ausschließlich Werksangehörige befahren oder solche Personen, denen eine individuelle Erlaubnis vom Eigentümer ausgestellt wurde.

Öffentlicher Straßenverkehr ist der der Fortbewegung dienende Verkehr von Fahrzeugen und Fußgängern auf allen Wegen, Plätzen, Durchgängen und Brücken, die jedermann oder wenigstens allgemein bestimmten Gruppen von Benutzern, wenn auch nur vorübergehend oder gegen Gebühr, zur Verfügung steht (Fischer, § 315b Rn 3 m.w.N.; BGH DAR 1969, 593; DAR 2004, 529 (jew. zu § 315b StGB). Freilich können auch Privatgelände "öffentlich" sein. Wenn aber durch diese Maßnahmen nur einem beschränkten Personenkreis wie den Betriebsangehörigen, wie mit einem besonderen Ausweis ausgestatteten Personen oder wie individuell zugelassenen Lieferanten und Abholern, Zutritt zu dem Betriebsgelände gewährt wird, handelt es sich um eine nicht öffentliche Verkehrsfläche (OLG Braunschweig, Urt. v. 8.5.1964 – Ss 87/64 – juris; BGH MDR 1963, 41; OLG Köln DAR 2002, 417).

Der Unfall ereignete sich folglich nicht im öffentlichen Straßenverkehr. Der objektive Tatbestand des § 142 Abs. 1 StGB ist dementsprechend nicht erfüllt. Ich beantr...

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