Rz. 227

Fraglich war lange Zeit die Bindungswirkung von Patientenverfügungen. Im Jahr 2003 stellte der BGH[305] klar, dass eine Willensäußerung in Form einer sog. "Patientenverfügung" als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts bindend wirkt; denn schon die Würde des Betroffenen verlangt, dass eine von ihm eigenverantwortlich getroffene Entscheidung auch dann noch respektiert wird, wenn er die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Entscheiden inzwischen verloren hat. Zwar kam der BGH hier zu dem Ergebnis, Patientenverfügungen seien strikt verbindlich, unterwarf sie aber dennoch einer Kontrolle des Betreuungsgerichts bei Fragen der Einstellung der künstlichen Ernährung.

 

Rz. 228

Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (siehe Rdn 4) und durch die Einfügung des § 630d BGB a.F. zum 1.11.2013 machte der Gesetzgeber deutlich, dass der gerichtlich nachprüfbare Patientenwille absolute Verbindlichkeit erhält, auch gegen die Indikationsstellung des Arztes. Der durch den Verfügenden im Voraus geäußerte Wille für die konkrete Situation ist sowohl für behandelnde Ärzte, Pfleger und Heime wie auch Bevollmächtigte und Betreuer bindend.[306] Keiner der Beteiligten darf eine Entscheidung gegen den in der Patientenverfügung getroffenen Willen treffen. Das heißt, eine situationsgenaue Patientenverfügung ist absolut verbindlich.

§ 1827 Abs. 3 BGB (§ 1901a Abs. 3 BGB a.F.) stellt ausdrücklich klar, dass die Abs. 1 und 2 unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung gelten.[307]

 

Rz. 229

Ist eine Patientenverfügung nicht vorhanden bzw. treffen die Festlegungen in der Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, so ist nach § 1827 Abs. 2 BGB (§ 1901a Abs. 2 BGB a.F.) der Behandlungswunsch oder – nachrangig – der mutmaßliche Wille des Betreuten festzustellen. Auf dieser Grundlage ist sodann zu entscheiden, ob eine ärztliche Maßnahme durchgeführt werden soll oder nicht. Der mutmaßliche Wille ist insbesondere aufgrund früherer mündlicher oder schriftlicher Äußerungen, ethischer und religiöser Überzeugungen sowie sonstiger persönlicher Wertvorstellungen des Betreuten zu ermitteln.[308] Diesen Willen hat der Betreuer bzw. nach § 1827 Abs. 6 BGB (§ 1901a Abs. 6 BGB a.F.) der Bevollmächtigte zu ermitteln, keinesfalls der behandelnde Arzt. Da hierbei eine allgemeine Wertanamnese vorzunehmen ist, ist bei der Erstellung einer Patientenverfügung dringend anzuraten, diese auch im Rahmen der Patientenverfügung schriftlich festzuhalten.

 

Rz. 230

Keine Regelung hat der Gesetzgeber für den Fall getroffen, dass weder eine Patientenverfügung vorhanden ist noch sich der mutmaßliche Wille des Patienten ermitteln lässt. In dieser Konstellation dürfte letztlich der Grundsatz gelten: In dubio pro vita – im Zweifel für das Leben.[309]

[305] BGH ZErb 2003, 222.
[306] Vgl. auch die Empfehlung der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis vom 19.8.2013, Deutsches Ärzteblatt (DÄ) 2013, A 1580 und notar 2014, 115 ff.
[307] Siehe auch BGH NJW 2014, 3572.
[308] Grüneberg/Götz, § 1827 Rn 16.
[309] Siehe auch LG München I MedR 2017, 889.

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