Rz. 132

Die Achillessehne sowohl der Erbschafts- als auch der Vermächtnislösung ist der Pflichtteilsanspruch des Abkömmlings, da der Pflichtteilsanspruch nämlich eben nicht durch die Regelungen der Vor- und Nacherbschaft bzw. des Vor- und Nachvermächtnisses oder durch die Dauertestamentsvollstreckung vor dem Zugriff der Sozialhilfeträger geschützt ist.

aa) Überleitbarkeit des Pflichtteilsanspruchs?

 

Rz. 133

Bezieht der Pflichtteilsberechtigte bereits beim Erbfall ALG II, geht der Pflichtteilsanspruch nach bislang überwiegender Auffassung mit dem Erbfall kraft Gesetzes und ohne dass eine Überleitungsanzeige erforderlich wäre, auf den Leistungsträger über (§ 33 Abs. 1 S. 1 SGB II). Demgegenüber findet bei der Sozialhilfe kein Übergang kraft Gesetzes statt. Vielmehr bewirkt erst die schriftliche Überleitungsanzeige, dass der Pflichtteilsanspruch auf den Träger in der Höhe der von ihm seit dem Erbfall erbrachten Sozialleistungen übergeht (§ 93 Abs. 1 S. 1 SGB XII).[174] Die in § 93 Abs. 2 SGB XII angeordnete Rückwirkung führt dazu, dass der Leistungsempfänger seine Forderungsinhaberschaft am entstandenen Pflichtteilsanspruch für die Zukunft, nicht jedoch rückwirkend verliert.

 

Rz. 134

Weil auch unpfändbare Ansprüche auf den Leistungsträger übergehen (§ 33 Abs. 1 S. 2 SGB II, § 93 Abs. 1 S. 4 SGB XII), kann der Leistungsträger den Pflichtteils- bzw. Pflichtteilsergänzungsanspruch auch dann durchsetzen, wenn die lediglich für andere Gläubiger geltenden einschränkenden Pfändungsvoraussetzungen des § 852 Abs. 1 ZPO (vertragliche Anerkennung oder Rechtshängigkeit) nicht gegeben sind. Der Leistungsträger ist insoweit privilegiert. Gestaltungsziel ist daher, durch Einsetzung des Behinderten als Vorerben oder Zuwendung eines Vermächtnisses erst gar keinen Pflichtteilsanspruch entstehen zu lassen.

[174] Ausführlich Schneider, Überleitung des Pflichtteilsanspruchs auf den Sozialhilfeträger und ihre zivilrechtlichen Folgen, ZEV 2018, 68.

bb) Überleitbarkeit des Ausschlagungsrechts?

 

Rz. 135

Der Sozialleistungsträger kann das Ausschlagungsrecht nicht auf sich überleiten. Die Befugnis, die Erbschaft anzunehmen, auszuschlagen oder die Annahme bzw. Ausschlagung anzufechten, geht nach dem BGH und der h.M. nicht auf den Leistungsträger über, denn die Ausschlagung ist ein höchstpersönliches Gestaltungsrecht. In den Fällen, in denen der Behinderte Vorerbe wird oder ein Vorvermächtnis erhält, welches mindestens der Höhe des Pflichtteils- bzw. Pflichtteilsergänzungsanspruches entspricht, kann der Sozialleistungsträger daher nicht über die Regelungen der §§ 2306 bzw. 2307 BGB durch Ausschlagung einen verwertbaren Pflichtteils- bzw. Pflichtteilsergänzungsanspruch schaffen.[175]

[175] BGH, Urt. v. 19.1.2011 – IV ZR 7/10, ZEV 2011, 258; MüKo/Leipold, § 1942 Rn 14.

cc) Zulässigkeit von Pflichtteilsverzicht?

 

Rz. 136

Der BGH hält es sogar für zulässig, dass der Behinderte einen Pflichtteilsverzicht erklärt und begründet dies mit der negativen Erbfreiheit.[176] Häufig wird der Behinderte jedoch geschäftsunfähig sein. Der gesetzliche Vertreter des Behinderten (Eltern, Vormund bzw. Betreuer) kann für diesen mit Genehmigung des Familien- bzw. Betreuungsgerichts auf den Pflichtteil verzichten, wenn dies gemäß § 1627 S. 1 bzw. § 1901 Abs. 2 S. 1 BGB dem Wohl des Behinderten entspricht. Dank der neuen BGH-Rechtsprechung steht fest, dass der Verzicht durch den Behinderten zivilrechtlich wirksam, insbesondere nicht anstößig oder gar sittenwidrig ist. Der Pflichtteilsverzicht verstößt auch nicht gegen das Schenkungsverbot des § 1804 S. 1 BGB, weil er gemäß § 517 BGB keine Schenkung ist, und er zumindest im Falle einer Kombination mit der Erbschafts- oder Vermächtnislösung auch im wohlverstandenen Interesse des Behinderten liegt.[177]

[177] So auch Spall, MittBayNot 2012, 140, 144; Frhr. v. Proff, Erbrechtsgestaltung nach der jüngsten BGH-Rechtsprechung zum Behindertentestament, RNotZ 2012, 272, 279 ausführlich zu den Anforderungen an einen Pflichtteilsverzicht gegen Abfindung, Beckervordersandfort, ErbR 2020, 528.

dd) Zulässigkeit von Ausschlagung?

 

Rz. 137

Wurde es versäumt, rechtzeitig ein sog. Behindertentestament zu errichten oder einen Pflichtteilsverzicht zu vereinbaren, so bleibt noch die Möglichkeit der Ausschlagung, die der BGH ebenfalls aufgrund der "negativen Erbfreiheit" als zulässig erachtet.[178] Auch die klare Stellungnahme von Wendt lässt keine andere Vermutung zu.[179] Die Ausschlagung liegt dann im wohlverstandenen Interesse des Behinderten, wenn er durch einen parallel abgeschlossenen Ausschlagungsvertrag im Ergebnis so gestellt wird, wie er aufgrund eines Behindertentestaments stünde.[180] Wegen der kurzen Ausschlagungsfrist nach § 1944 BGB bleibt hier jedoch wenig Zeit für die Gestaltung.

[178] BGH, Urt. v. 19.1.2011 – IV ZR 7/10, Rn 27, ZEV 2011, 258; so auch OLG Hamm, Urt. v. 27.10.2016 – 10 U 13/16, juris Rn 90 f., ZEV 2017, 158; LG Neuruppin, Beschl. v. 28.6.2017 – 5 T 21/17, Rn 14 ff., ZErb 2018, 157; OLG Hamm, Urt. v. 11.5.2017 – 10 U 72/16, Rn 30 f., ZEV 2018, 136.
[179] Vgl. Wendt, Grenzen der Pflichtteilsbeeinflussung, ZErb 2012, 313, 321.
[180...

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