Rz. 235

Nach der Abschaffung des § 24 UrhG im Jahre 2021 wurden Teile dieser Norm in § 23 Abs. 1 UrhG übernommen.[383] Nunmehr regelt § 23 UrhG auch die Begrenzung des Schutzbereichs des Urheberrechts als immanente Schranke des Bearbeitungsrechts. Nach der nun maßgeblichen Bestimmung ist der "äußere" Abstand entscheidend. Ein solcher hinreichender Abstand liegt dann vor, wenn die aus einem vorbestehenden Werk entlehnten eigenpersönlichen Züge dem Gesamteindruck nach gegenüber der Eigenart des neuen Werkes so stark "verblassen", dass das vorbestehende Werk nicht mehr oder nur noch rudimentär zu erkennen ist.[384]

 

Rz. 236

Ansonsten können durch die Rechtsprechung und Literatur über Jahre hin entwickelten Grundsätze zu Anwendung gelangen.

Jeder Zustimmung des Urhebers sind solche selbstständigen Werke entzogen, die in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen wurden (§ 23 Abs. 1 UrhG, § 24 UrhG a.F.). Im Einzelfall ist es allerdings schwierig zu unterscheiden, wann das ursprüngliche Werk in seinen Wesenszügen soweit hinter dem neu geschaffenen Werk zurücktritt, dass der Begriff der Bearbeitung dem neu geschaffenen Werk nicht mehr gerecht würde und stattdessen das vorbestehende Werk lediglich als Inspiration diente.[385] Davon wird in der Regel auszugehen sein, wenn bei der Verwendung des Werkes einer Kunstgattung die Schöpfung eines neuen Werkes einer anderen Kunstgattung erfolgen soll, wenn sich also der Komponist durch ein Sprachwerk (etwa ein Gedicht) Anregungen einholt. Rehbinder[386] stellt dazu folgende praktische Faustformeln auf: Je origineller die Schöpfung des Autors sei, desto weniger Änderungen brauche er sich gefallen zu lassen. Diese Ausführungen wurden zwar primär im Hinblick auf die "Werktreue" einer Bühneninszenierung und im Hinblick auf § 14 UrhG getätigt, sind aber auch für die Abgrenzung zwischen freier Benutzung (§ 24 UrhG a.F.) oder zustimmungspflichtiger Bearbeitung (§ 23 UrhG) dienstbar zu machen. Denn es gilt, dass der Umfang des Werkschutzes und damit auch die Möglichkeit der freien Benutzung maßgeblich von den Wesenszügen, also der Charakteristik des zu schützenden Werkes beeinflusst werden.

 

Rz. 237

 

Beispiel

Was ein Werk wirklich "wert" ist, soll anhand einer Entscheidung des Hanseatischen OLG[387] verdeutlicht werden: Der in Köln lebende russische Maler George Pusenkoff griff ein fotografisches Werk von Helmut Newton, "Miss Livingston I, Beverly Hills", auf und verarbeitete es zu dem Bildwerk "Power of blue".

Original und Nachschöpfung sind (in dieser Reihenfolge hintereinander) abgebildet und zeigen im Bereich der (zweckfreien) Kunst das "Zusammenspiel" zwischen dem, was die Originalfotografie an Individualität ausmacht, um daraus die unfreie/freie Benutzung der Nachschöpfung von Pusenkoff aufzuzeigen.

Zu dem Rechtsstreit kam es, weil George Pusenkoff Helmut Newton zu seiner Ausstellung nach Hamburg mit einer Karte einlud, auf der "sein" Werk "Power of Blue" abgelichtet war. Die damals in allen großen Magazinen ("Stern", "Spiegel") behandelte gerichtliche Auseinandersetzung war deshalb von öffentlichem Interesse, weil sich ­Pusenkoff ganz bewusst mit den Werken "westlicher Dekadenz", hier der nackten Frau in Pose, auseinandersetzen wollte. Das OLG Hamburg war erst in dem Augenblick von der freien Benutzung Pusenkoffs überzeugt, als Letzterer sein Werk im Original dem Gericht vor Augen führte. Das "gelbe Quadrat" stach dem Betrachter geradezu ins Auge und ließ dahinter das in "blau" getauchte Werk von Newton deutlich in den Hintergrund treten.

 

H. Newton "Miss Livingston I Beverly Hills"

G. Pusenkoff "Power of blue"

Zu klären war also, ob es sich dabei um eine einwilligungsbedürftige Umgestaltung (§ 23 UrhG) oder aber um so genannte freie Nutzung (§ 24 UrhG a.F.) im Zusammenhang mit der Erstellung eines eigenen neuen Werkes handelte. In der Entscheidung heißt es dazu wörtlich:

Zitat

Das Urheberrechtsgesetz schützt nicht Ideen, sondern Werke. Nicht auf den Einfall kommt es an, sondern auf seine schöpferische Umsetzung. Selbst eine zum Werkinhalt gewordene Idee ist nicht geschützt, wenn sie zum Gemeingut gehört. Elemente im Lichtbild des Antragstellers (hier Helmut Newton), die Gemeingut sind, können, wenn sie im Werk des Antraggegners (hier George Pusenkoff) wiederkehren, keine Rechtsgutverletzung begründen …

Ungeschützt ist der Einfall, einen weiblichen Akt von vorn, auf einem Stuhl sitzend, in der Bildmitte auf einem großflächig gegliederten Hintergrund darzustellen. Ohne Schutz bleibt auch eine bestimmte "Pose". Jeder darf einen Akt selbstbewusst und kraftvoll in Erscheinung treten und ihn im linken Arm gleichsam "die Muskeln spielen" lassen. Dass es dem Antragsteller gelungen ist, mit "Miss Livingston" in dieser Pose ein Werk von eigenschöpferischem Rang zu schaffen, bedeutet nicht, dass anderen ein ähnlicher Versuch verboten wäre.

Das stellt den Senat vor die Notwendigkeit, genauer zu bestimmen, mit welchen Mitteln der Antragsteller diesen Rang erreicht hat, um entscheiden zu kö...

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