Rz. 88

Nachdem der Rechtsanwalt sich – im vorstehenden Rahmen – mandatsbezogene Kenntnis der Rechtsnormen und der Ansichten in der Rechtsprechung und Rechtslehre verschafft hat, wird er diese bewerten und sich – als Abschluss der Rechtsprüfung – eine eigene Meinung von der Rechtslage bilden.[431]

 

Rz. 89

Als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) braucht der Rechtsanwalt die vorgefundenen Meinungen nicht kritiklos zu übernehmen. Beabsichtigt er, im Rahmen seines Mandats einer herrschenden Meinung – insb. einer höchstrichterlichen Rechtsprechung – seine eigene Rechtsansicht entgegenzusetzen, so ist allerdings Vorsicht geboten. Ein solches Vorhaben darf nicht leichtfertig auf Kosten und Risiko des Mandanten ausgeführt werden.[432] Eine Abweichung von der herrschenden Meinung stellt den Anwalt unter hohen Begründungszwang.[433] Davon befreit sich der Anwalt i.d.R. noch nicht durch den Hinweis, dass eine höchstrichterliche Rechtsprechung von Instanzgerichten und/oder im Schrifttum abgelehnt werde.[434]

Deswegen sollte der Rechtsanwalt eine Abweichung von der herrschenden Rechtsmeinung nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht ziehen. Steht er mit seiner Rechtsansicht allein, so sollte er nicht versuchen, diese auf fremdes Risiko durchzusetzen. Bei rechts-/vertragsgestaltender Tätigkeit sollte der Rechtsanwalt niemals von der herrschenden Meinung abweichen.

 

Rz. 90

Andererseits ist ein Rechtsanwalt, der mit guten Gründen eine herrschende, aber nicht mehr als unanfechtbar geltende Rechtsmeinung bekämpft, für die Rechtsentwicklung unverzichtbar.[435] Anwaltlicher Einsatz hat dazu beigetragen, dass – auch "feste" – höchstrichterliche Rechtsprechung geändert und einer besseren Rechtserkenntnis zum Durchbruch verholfen wurde. Jedenfalls darf der Rechtsanwalt bei der Wahrnehmung eines Mandats nur dann – etwa in einem "Musterprozess" – von der herrschenden Meinung abweichen, nachdem er seinen Auftraggeber über das Erfolgs- und Kostenrisiko aufgeklärt (vgl. Rdn 102 ff.) und dieser seine Zustimmung erklärt hat.[436] Verweigert sich der Mandant, so muss der Anwalt seine eigene Rechtsansicht zurückstellen oder das Mandat niederlegen.

[431] RGZ 87, 183, 187; BGH, NJW 1967, 105, 107.
[432] Vgl. BGH, NJW 1989, 1155, 1156 m. Anm. Wagner, NJW 1989, 1156 – zur Versäumung einer Berufungsbegründungsfrist infolge einer unzutreffenden anwaltlichen Auslegung einer Entscheidung des BVerfG.
[433] Vgl. BGH, MDR 1958, 496, 497.
[434] Vgl. BGH, NJW 1961, 601; BGH, WM 1993, 1677, 1678; BGH, NJW 1993, 3323, 3324.
[435] Vgl. RGZ 87, 183, 187; Borgmann, § 19 Rn 71.
[436] Vgl. BGH, NJW 1993, 3323, 3325; Schneider, MDR 1972, 745, 747.

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