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Immer wieder wird von Gerichten eine Einschätzung der Merkmalshäufigkeiten in der Bevölkerung gefordert bzw. sogar zum Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung gemacht. Diese Forderung ist im Hinblick auf andere gerichtsverwertbare Beweise, wie z.B. in der forensischen DNA-Analyse bzw. bei der Daktyloskopie nur zu verständlich, wobei die Sachlage bei morphologischen Bildvergleichsgutachten eine andere ist. Zwar werden auch auf den anderen Gebieten Merkmale zur Identitätsüberprüfung herangezogen, dabei existieren aber im Gegensatz zum Fotovergleich z.B. bei der forensischen DNA-Analyse für die Häufigkeiten der für die DNA-Datenbank relevanten Genorte statistisch gesicherte Wahrscheinlichkeiten bzgl. ihres Auftretens in bestimmten Bevölkerungsgruppen. Bei der Untersuchung von Fingerabdrücken besteht eine Übereinkunft über die Anzahl übereinstimmender Merkmale, ab der eine positive Identitätsfeststellung vorliegt.

Die forensischen Bildvergleiche hingegen beruhen auf der Besonderheit des Einzelfalles, ohne dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt statistische Aussagen über Merkmalshäufigkeiten in der gesamten Bevölkerung angegeben können. Es existieren sowohl ältere Untersuchungen als auch Studien neueren Datums bzgl. derartiger Merkmalshäufigkeiten, die jedoch vielfältigen Einschränkungen unterliegen. Die Untersuchungen von Schwidetzky[37] beziehen sich z.B. auf ein Kollektiv von 16.543 Schulkindern aus Westfalen-Lippe in den Jahren 1955 – 1958. Das Untersuchungskollektiv ist zwar bzgl. der Anzahl der untersuchten Individuen hinreichend groß, um gesicherte statistische Aussagen treffen zu können, bezieht sich aber lediglich auf eine Personengruppe in einem begrenzten geografischen Gebiet, sodass die Merkmalshäufigkeiten auch lediglich auf Personen in dem geografischen Gebiet angewendet werden können. Diese Daten sind nicht auf die Gesamtbevölkerung Deutschlands oder Europas übertragbar. Gleiches gilt für die Arbeit von Knußmann[38] und Scheidt.[39] Neben diesen älteren, aber sehr umfassenden Arbeiten gibt es Untersuchungen jüngeren Datums, wobei auch diese entweder regional begrenzt sind oder das Untersuchungsgut zahlenmäßig eingeschränkt ist. Eine umfassende Darstellung der Merkmalsausprägungen sowie verschiedene Schemata mit einer Übersicht der Autoren findet sich bei Rösing 2008.[40] Im Zuge der zunehmenden Öffnung Europas und der stärkeren Mobilität mit Vermischung lange eher begrenzt existierender Bevölkerungsgruppen wäre eine europaweite Erhebung von morphologisch relevanten Bevölkerungsdaten zu fordern, was momentan an den Ausmaßen des zeitlichen und finanziellen Aufwandes scheitert.

Daneben existieren bisher auch nur wenige gesicherte Erkenntnisse über die Korrelationen von Einzelmerkmalen, die für die Berechnung statistischer Häufigkeiten jedoch notwendig sind.

Auch eine Übereinkunft bzgl. einer Mindestanzahl von gleichartig oder unterschiedlich ausgeprägten Merkmalen, die für ein positives oder negatives Identitätsprädikat notwendig sind, gibt es entgegen z.B. der Daktyloskopie nicht. Die Wertigkeit der Zuordnung zu den beiden Grundrichtungen "identisch" oder "nichtidentisch" drückt sich in der Höhe des vergebenen Prädikates aus.

[37] Schwidetzky I (1967) Die metrisch-morphologischen Merkmale und der fälische Typus. In: Schwidetzky I, Walter H Untersuchungen zur anthropologischen Gliederung Westfalens. Aschendorff, Münster.
[38] Knußmann R (1961) Zur Paarungssiebung nach Integument und nach morphognostischen Merkmalen des Kopfes. Homo 12: 193 – 217.
[39] Scheidt W (1931) Physiognomische Studien an niedersächsischen und oberschwäbischen Landbevölkerungen. Gustav Fischer, Jena.
[40] Rösing F W (2008) Morphologische Identifikation von Personen. In: Buck J, Krumbholz H (eds) Sachverständigenbeweis im Verkehrsrecht, Baden-Baden, pp 201 – 312.

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