Rz. 855

Nach dem Eigenverantwortungsprinzip des § 1602 obliegt demjenigen, der einen Verwandten aufgrund eines Unterhaltstatbestands berechtigt in Anspruch nimmt, zunächst seine Arbeitskraft zu verwerten sowie zumutbare Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.[1194] Verletzt der Unterhalt begehrende Verwandte eine solche Obliegenheit, wird auf fiktive und somit anrechenbare Einkünfte abgestellt.

[1194] BGH FamRZ 1985, 916.

(1) Erwerbsobliegenheit im Allgemeinen

 

Rz. 856

Volljährige Kinder sind vom Grundsatz her dazu verpflichtet, zur Deckung des eigenen Lebensbedarfs eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.

 

Rz. 857

Vor einer unterhaltsrechtlichen Einstandspflicht seiner Eltern muss der gesunde Volljährige daher grundsätzlich – auch unter Ortswechsel – jede Arbeitsmöglichkeit ausnutzen und alle sich ihm bietenden, auch berufsfremde und einfachste Tätigkeiten bzw. Arbeiten unterhalb seiner gewohnten Lebensstellung bzw. ggf. unterhalb seines Ausbildungsniveaus annehmen,[1195] auch wenn es ihm nicht gelingt, einen Arbeitsplatz in seinem erlernten Beruf zu finden,[1196] wenn die Anforderungen des Arbeitsplatzes seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten nicht übersteigen. Auf Arbeitslosigkeit kann er sich daher nicht berufen.[1197] Kommt ein Volljähriger seiner zumutbaren Erwerbsobliegenheit nicht nach, entfällt seine Bedürftigkeit in Höhe eines erzielbaren Erwerbseinkommens.[1198]

 

Rz. 858

Ein Jugendlicher, der die Schule nicht mehr besucht und auch keine Ausbildung absolviert, ist daher nicht bedürftig.[1199] Er ist vielmehr zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verpflichtet. Kommt er dieser Erwerbsobliegenheit nicht nach, so muss er sich in erzielbarer Höhe fiktive Einkünfte, die er bedarfsdeckend einzusetzen hat, zurechnen lassen.[1200]

[1195] BGH FamRZ 1985, 273; OLG Köln FamRZ 1983, 942; OLG Zweibrücken FamRZ 1984, 291; OLG Frankfurt FamRZ 1987, 188; OLG Hamm FamRZ 1990, 1385; OLG Karlsruhe NJWE-FER 1999, 54.
[1196] BGH FamRZ 1985, 273; 1987, 930; 1994, 696; OLG Hamm FamRZ 1999, 888; OLG Karlsruhe NJWE-FER 1999, 54.
[1197] BGH FamRZ 1985, 273; OLG Schleswig OLGR 2008, 196.
[1198] OLG Düsseldorf FamRZ 2004, 1890 (Ls.).
[1199] OLG Karlsruhe FamRZ 1988, 758; OLG Düsseldorf FamRZ 1990, 194.
[1200] OLG Stuttgart OLGR 2009, 284; OLG Rostock FamRZ 2007, 1267; OLG Brandenburg FamRZ 2005, 2094.

(2) Erwerbsobliegenheiten bei Betreuung eines Kindes

 

Rz. 859

Grundsätzlich gilt der Grundsatz der Eigenverantwortung auch dann, wenn der Volljährige ein eigenes minderjähriges Kind betreut. Der Umfang der Unterhaltspflicht von Verwandten ist der Mitverantwortung des anderen Ehegatten für das gemeinsame Kind nicht gleichzusetzen.[1201] Sieht man dies allerdings – wie der BGH[1202] – großzügiger, ist jedenfalls zu verlangen, dass die unterhaltspflichtigen Eltern des betreuenden Unterhaltsgläubigers soweit wie möglich durch die Aufnahme einer Teilzeittätigkeit zu entlasten sind (Vgl. Rdn 725 ff.).[1203] Dies gilt insbesondere dann, wenn der andere Elternteil oder ein mit der Mutter zusammenlebender Dritter die Betreuung des Kindes übernehmen kann,[1204] erst recht, wenn Fremdbetreuung möglich ist.

[1201] OLG Hamm FamRZ 1990, 1385.
[1202] BGH FamRZ 1985, 273.
[1203] BGH FamRZ 1985, 1245; OLG Karlsruhe FamRZ 1988, 200; OLG Hamm FamRZ 1990, 1385.
[1204] OLG Hamm FamRZ 1996, 1104.

(3) Erwerbsobliegenheiten von Kindern in Notlagen

 

Rz. 860

Kranken und behinderten Kindern[1205] gegenüber bleiben die Eltern – auch nach Eintritt der Volljährigkeit – voll unterhaltspflichtig (Vgl. Rdn 731 ff.), wenn und soweit der Lebensbedarf nicht durch (anrechenbare) Leistungen Dritter gedeckt ist und/oder die betroffenen Kinder ihn nicht durch zumutbare eigene Erwerbstätigkeit teilweise oder insgesamt decken können. Fiktives Erwerbseinkommen ist anrechenbar, wenn das Kind entweder mögliche und zumutbare Teilerwerbstätigkeit nicht leistet oder wenn es gegen Obliegenheiten zur Wiedereingliederung verstößt. Alkoholismus begründet als Krankheit ebenso wie Unterhaltsneurose zunächst Unterhaltsbedürftigkeit. Ein solcher Unterhaltsanspruch ist jedoch zum einen durch Verletzung der Obliegenheit begrenzt, alle zur Gesundung und Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zumutbaren Maßnahmen einzuleiten, zum anderen durch § 1611.[1206]

[1205] Klinkhammer, FamRZ 2004, 266 ff.
[1206] OLG Frankfurt FamRZ 2011, 1158; OLG Dresden FamRZ 2011, 1407.

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