Rz. 70

Nach § 1361b Abs. 4 BGB wird im Falle des Getrenntlebens der Ehegatten im Sinne des § 1567 Abs. 1 BGB unwiderleglich vermutet, dass der ausgezogene Ehegatte dem in der Ehewohnung verbliebenen Ehegatten das alleinige Nutzungsrecht an der gesamten Ehewohnung überlassen hat, wenn der ausgezogene Ehegatte nicht binnen sechs Monaten nach seinem Auszug die ernstliche Rückkehrabsicht dem anderen Ehegatten gegenüber bekundet hat. Die Vorschrift greift nach einheitlicher Ansicht auch dann ein, wenn ein Ehegatte zum Zweck der Trennung die Ehewohnung verlässt, Trennung und Auszug können entgegen dem Wortlaut der Vorschrift zusammenfallen.[223] Der Ehegatte muss die Ehewohnung verlassen haben, ein Getrenntleben innerhalb der Ehewohnung i.S.v. § 1567 Abs. 1 S. 2 BGB reicht nicht aus, wie auch das bloße Vorliegen einer unbilligen Härte allein die tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.[224]

 

Rz. 71

Es handelt sich um eine unwiderlegbare gesetzliche Vermutung, auf die § 292 ZPO nicht entsprechend i.V.m. § 30 Abs. 1 FamFG anzuwenden ist. Die unwiderlegbaren Vermutungen haben keine Beweis- oder Beweislastwirkung, sondern sind Normen mit einer rein materiellen Rechtsfolge.[225] Bei einer solchen unwiderlegbaren Vermutung wird durch die Normierung der Vermutungsbasis neben der Vermutung ein zweiter Tatbestand für die konkrete Rechtsfolge aufgestellt. Die Vermutungsbasis muss bewiesen werden, die Vermutung tritt dann ohne jede Möglichkeit des Gegenbeweises ein.[226]

Es wird unwiderleglich die materielle Rechtsfolge des § 1361b Abs. 1 S. 1 BGB vermutet, nämlich, dass der ausgezogene Ehegatte dem in der Wohnung verbliebenen Ehegatten das alleinige Nutzungsrecht, also das Recht zum Alleinbesitz der Wohnung, überlassen hat. Damit wird die Rechtsfolge des § 1361b Abs. 1 S. 1 BGB vermutet, verwandelt dieser doch das gem. § 1353 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 BGB bestehende Recht zum Mitbesitz beider Ehegatten zu einem Recht zum Alleinbesitz des Anspruchsinhabers.

 

Rz. 72

Die Vermutungsbasis muss allerdings bewiesen werden. Das heißt neben dem Getrenntleben außerhalb der Ehewohnung i.S.v. § 1567 Abs. 1 S. 1 BGB zudem, dass der Ehegatte, der die Ehewohnung verlassen hat, sechs Monate nach seinem Auszug dem anderen gegenüber keine Rückkehrabsicht bekundet hat. Die Beweislast trägt der in der Wohnung verbliebene Ehegatte. Die Bekundung bedarf keiner bestimmten Form, sie kann deshalb auch mündlich und konkludent, z.B. durch einen Wiedereinzug, erfolgen. Die Rückkehrabsicht muss zudem “ernstlich“ sein, das Motiv für die Rückkehrabsicht ist allerdings unerheblich. Es reicht allerdings nicht aus, wenn die Rückkehrabsicht allein zu dem Zweck erfolgt, um den Eintritt der Vermutungswirkung zu verhindern, sogenannte "Vorratserklärung".[227]

 

Praxistipp

Es ist zum Beweis der "Bekundung der ernstlichen Rückkehrabsicht" zwingend erforderlich, dass diese nicht nur schriftlich erfolgt, sondern auch in geeigneter, d.h., den Beweis ermöglichender Art und Weise zugestellt wird. Es besteht anderenfalls die erhebliche Gefahr, dass der ausgezogene Ehegatte sein Recht zum Mitbesitz der Ehewohnung verliert und jedenfalls während des Getrenntlebens der Ehegatten nicht in diese zurückkehren kann. Es besteht hier für den Rechtsanwalt ein erhebliches Haftungsrisiko, da dem ausgezogenen Ehegatten ggf. als Schadensersatz, die bei diesem angefallenen Wohnkosten zu ersetzen sind. Es kommt hinzu, dass in der Praxis wegen des die Schriftform erfordernden § 2 Abs. 3 Nr. 2 GewSchG, das Erfordernis des Beweises der Erklärung und deren Zugang als bekannt vorauszusetzen sind. Die Erklärung nach § 1361b Abs. 4 BGB sollte in jedem von § 1361b Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 BGB erfassten Falle erfolgen, gerade weil Streit über den Anwendungsbereich des § 1361b Abs. 4 BGB besteht (dazu sogleich).

 

Rz. 73

Der Anwendungsbereich des § 1361b Abs. 4 BGB ist umstritten. Teilweise ist zu lesen, auf den Grund des Auszugs komme es nicht an; die Sechsmonatsfrist beginne mit dem tatsächlichen Auszug eines Ehegatten aus der Ehewohnung.[228] Voppel[229] ist im Ergebnis der gleichen Ansicht, führt aber detailliert aus, weshalb § 1361b Abs. 4 BGB auch dann anwendbar ist, wenn § 1361b Abs. 1 BGB eingreift. Die Argumente überzeugen durchweg nicht, die Ansicht führt zudem zum Teil zu widersprüchlichen Ergebnissen. Vielmehr ist § 1361b Abs. 4 BGB in den Fällen, in denen § 1361b Abs. 1 S. 1 BGB eingreift nicht anwendbar.[230] Wortlaut, Bedeutungszusammenhang und die Regelungsabsicht der Gesetzgeber schließen die gleichzeitige Anwendung beider Normteile aus, weil zwischen ihnen sonst Widersprüche aufträten. Insbesondere erlangte der in der Wohnung verbliebene Ehegatte, der gegenüber dem anderen Gewalt ausgeübt hat, sechs Monate nach dem Auszug des Gewaltopfers ein Recht zum Alleinbesitz der Ehewohnung, wenn das Opfer die Rückkehrabsicht nicht bekundet. Die Rückkehr des Opfer-Ehegatten in die Ehewohnung wäre gegen den Willen des Gewalttäters nicht mehr möglich. Die Gewaltausübung würde so "belohnt".[231] Das Argum...

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