Rz. 57

Der unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls hat verschiedene Funktionen.[169] Er ist als Entscheidungsmaßstab für das richterliche Handeln[170] nur schwer zu konkretisieren.[171] Das Gesetz nennt in § 1666 Abs. 1 Hs. 1 BGB als Elemente des Kindeswohls das körperliche, geistige und seelische Wohl des Kindes; hierdurch wird deutlich, dass es um den umfassenden Schutz des sich in der Entwicklung befindlichen Kindes geht.[172] Entscheidendes rechtliches Kriterium des Kindeswohls ist deshalb das aus dem Elternrecht abgeleitete Ziel der Erziehung, dass sich das Kind zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann;[173] rechtlich beachtlich sind auch die Bedeutung von Kontinuität und Stabilität von Betreuungs- und Erziehungsverhältnissen, wie aus § 1632 Abs. 4 BGB[174] folgt, sowie vor allem der Wille des Kindes. Darüber hinaus wird der Kindeswohlbegriff von einer Vielzahl außerjuristischer Elemente, wie z.B. wissenschaftlicher Erkenntnisse und gesellschaftlicher Standards, mitbestimmt.[175]

Die Schwierigkeit einer Konkretisierung des Kindeswohlbegriffs ergibt sich aus einer Offenheit gegenüber den sich wandelnden Anschauungen über die Bedürfnisse des Kindes in bestimmten Krisensituationen. Der Richter darf bei der Begriffsbestimmung nicht schichtspezifische Wertvorstellungen zugrunde legen, die möglicherweise in weiten Bevölkerungsteilen überholt sind oder zu weit von denen abweichen, die in dem Milieu gelten, dem das Kind angehört.[176]

Es ist auf allgemein konsensfähige Erfahrungswerte abzustellen.[177]

 

Rz. 58

§ 1 SGB VIII sowie §§ 1626 Abs. 2, 1631 Abs. 2 BGB bestimmen allgemeine Erziehungsziele und -mittel. Außerrechtliche Kriterien und Maßstäbe sind im gerichtlichen Verfahren durch Sachverständigengutachten zu ermitteln. Zudem ist der Kindeswille zu berücksichtigen, weil die Entscheidung des Familiengerichts erheblichen Einfluss auf das künftige Leben des Kindes nimmt und es deshalb unmittelbar betrifft.[178] Das Kindeswohl dürfte bei einer auch räumlichen Trennung der Eltern und/oder Ehegatten immer betroffen sein, unabhängig davon, ob das Kind bei dem in der Wohnung verbleibenden Ehegatten lebt oder mit dem anderen Ehegatten die Ehewohnung verlässt.[179]

 

Rz. 59

Eine Gefährdung des Kindeswohls setzt nicht voraus, dass bereits eine Schädigung des Kindes eingetreten ist; allerdings reicht eine bereits eingetretene Schädigung nicht aus, wenn sie vereinzelt geblieben ist.[180] Es genügt eine hinreichend wahrscheinliche erhebliche Schädigung bei Nichteingreifen des Gerichts.[181] Dabei muss die Gefährdung gegenwärtig sein, es darf sich nicht nur um eine künftige Gefährdung handeln.[182] Entsprechend der Funktion des § 1361b Abs. 1 S. 1 BGB in Bezug auf das Kindeswohl, geht es hier im Gegensatz zu § 1666 Abs. 1 BGB nicht primär um einen Eingriff in die elterliche Sorge zumindest eines Elternteils, sondern um den Schutz der in der Ehewohnung lebenden Kinder, auch der Stiefkinder,[183] vor einer häuslichen Situation, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Schädigung des Kindes führt, wenn nicht ein Ehegatte die Wohnung verlässt. Dabei ist zu beachten, dass § 1631 Abs. 2 BGB die Gefährdungsschwelle gesenkt hat, weil er die Grenze zwischen Hinnehmbaren und Kindeswohlgefährdung neu bestimmt hat.[184]

Der Überlassungsanspruch steht deshalb nicht nur einem Ehegatten zu, wenn von dem anderen die Gefahr einer schweren körperlichen Misshandlung von Kindern ausgeht,[185] sondern bereits dann, wenn zu befürchten ist, dass der Anspruchsgegner körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen gegenüber dem Kind vornehmen wird.

Gewaltanwendungen zwischen den Ehegatten selbst führen ebenfalls in der Regel zu seelischen Schäden der Kinder, die diese Gewalt miterleben,[186] weshalb in solchen Fällen unter Heranziehung weiterer Gesichtspunkte, insbesondere des Kindeswillens, dessen Interesse am Verbleib in der ihm vertrauten Umgebung sowie der Frage, welcher Ehegatte besser für das Kind sorgen kann, die Entscheidung zu treffen ist.

Selbst andauernde Spannungen und Streitereien der Eltern können zu erheblichen Belastungen der Kinder führen, die eine Überlassung der Ehewohnung an einen Ehegatten rechtfertigen;[187] die Entscheidung, ob dem antragstellenden Ehegatten der Überlassungsanspruch zusteht, ist unter Heranziehung der soeben genannten weiteren Kriterien zu treffen.

Ergibt sich danach, dass dem antragstellenden Ehegatten aus Kindeswohlgründen die Wohnung zu überlassen ist, ist das Kindeswohl vorrangig auch gegenüber der etwaigen Eigentümerstellung des überlassungspflichtigen Ehegatten.[188]

[169] Coester, S. 135 ff.
[170] Zu dieser Funktion BVerfG FamRZ 2000, 1489 sowie Coester, S. 135 ff.
[171] Mnookin, FamRZ 1975, 1, 3; Diederichsen, FamRZ 1978, 461, 467 f.; ders., NJW 1998, 1977, 1991; Jopt, ZfJ 1996, 203, 204; kritisch auch Gernhuber, FamRZ 1973 229, 230; Giesen, FamRZ 1997, 594, 595 f.; Zenz, AcP 173, (1973), 527, 545 ff.; a.A. woh...

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