Rz. 94

Die Besteuerung stiller Reserven anlässlich des Wegzugs in einen Drittstaat verstößt nicht gegen die in Art. 56 Abs. 1 EG verankerte Kapitalverkehrsfreiheit. Im Gegensatz zu den anderen Grundfreiheiten ist Art. 56 Abs. 1 EG zwar nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten anwendbar; die Vorschrift verbietet vielmehr auch sämtliche Beschränkungen von Kapitalbewegungen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten.

 

Rz. 95

Der EuGH hat jedoch im Jahr 2006 in der Rechtssache van Hilten[104] – ohne dass dies für die Beantwortung der Vorlagefrage relevant gewesen ist – die Auffassung vertreten, dass die bloße Verlegung des Wohnsitzes von einem Staat in den anderen nicht unter die Kapitalverkehrsfreiheit falle. Die Verlegung des Wohnsitzes umfasse für sich genommen keine finanziellen Transaktionen oder die Übertragung von Eigentum und weise auch keine anderen Merkmale einer Bewegung von Kapital auf, wie sie sich aus dem Anhang der Richtlinie 88/361 ergebe.

 

Rz. 96

Nach dieser Stellungnahme des EuGH wird bei Wegzügen in Drittstaaten das Vorbringen, die nach § 6 AStG anfallende Vermögenszuwachsbesteuerung verstoße gegen die Kapitalverkehrsfreiheit, keinen Erfolg versprechen, und der hierzu entbrannte Streit in der Literatur[105] scheint gegenstandslos geworden zu sein.

 

Rz. 97

In einem Urteil aus Ende 2021 hält der BFH[106] in einem noch zu § 6 AStG a.F. ergangenen Urteil fest, dass bei der teilunentgeltlichen Übertragung von Geschäftsanteilen an einer GmbH mit Sitz in Deutschland von einem in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtigen auf einen in den USA ansässigen, in Deutschland beschränkt Steuerpflichtigen das Recht Deutschlands zur Besteuerung der in den Anteilen ruhenden stillen Reserven weder ausgeschlossen noch beschränkt ist. Denn § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AStG a.F. sei weder aus teleologisch-historischen noch aus systematischen Gründen einschränkend dahingehend auszulegen, dass durch die unentgeltliche Übertragung auf einen beschränkt Steuerpflichtigen (zusätzlich) das Recht Deutschlands zur Besteuerung stiller Reserven ausgeschlossen oder beschränkt sein müsse. Da sich die Neuregelung in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG n.F. nicht von der diesbezüglichen Vorgängerregelung in § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AStG a.F. unterscheidet, ist dieses Urteil auch zukünftig von Bedeutung.

[104] EuGH v. 23.2.2006, IStR 2006, 309.
[105] Hahn, DStZ 2000, 14; Dautzenberg, IStR 1998, 301; Saß, FR 1998, 1; Schnitger, BB 2004, 804.
[106] BFH v. 8.12.2021, I R 30/19, IWW-Abrufnummer 225545. Siehe hierzu auch Kahlenberg, IStR 2020, 378.

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