a) Einleitung

 

Rz. 108

Bereits während des Verfahrens i.S. de Lasteyrie du Saillant vor dem EuGH gegen Frankreich hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Jahr 2003 mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG gegen die Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck gebracht, dass sie die deutsche Regelung zur Wegzugsbesteuerung in § 6 AStG a.F.[120] ebenso wie die französische Norm zur Wegzugsbesteuerung für europarechtswidrig hält. Demgegenüber hatte das FG Düsseldorf am 14.11.2007 für das Jahr 1998 die Europarechtskonformität von § 6 AStG a.F. festgehalten.[121] Die Kommission jedenfalls stellte einen Verstoß gegen die Art. 18, 39 und 43 EG sowie gegen die Art. 28 und 31 EWR-Abkommen fest und forderte die deutsche Regierung auf, die erforderlichen Maßnahmen zur EG-rechtskonformen Anpassung der Vorschrift zu ergreifen.

 

Rz. 109

Auf Anregung der deutschen Bundesregierung wurde das Vertragsverletzungsverfahren bis zum Erlass des Urteils in der Rechtssache de Lasteyrie du Saillant zunächst zurückgestellt und am 30.3.2004 wieder fortgesetzt. Das BMF hatte auf das Vertragsverletzungsverfahren am 8.6.2005 mit dem Erlass eines Verwaltungsschreibens[122] auf alle noch nicht bestandskräftig festgesetzten Fälle reagiert. Mit Urteil vom 11.4.2004 hat der EuGH in diesem Fall[123] entschieden, dass die französische Wegzugsbesteuerung gegen den in Art. 43 EG verankerten Grundsatz der Niederlassungsfreiheit verstößt.[124]

[120] Siehe zu § 6 AStG a.F. die Vorauflagen zu diesem Buch.
[121] FG Düsseldorf v. 14.11.2007 – 9 K 1270/04 E, IStR 2008, 633; Revision beim BFH unter I R 88/07. In einem anderen Verfahren hat der BFH (Beschluss v. 23.9.2008 – I B 92/08, IStR 2008, 884) bereits festgehalten, dass § 6 AStG a.F. weder gegen Gemeinschaftsrecht noch gegen Verfassungsrecht verstößt.
[123] Siehe Deininger, INF 2004, 460, 465.
[124] EuGH v. 11.4.2004 – Rs. C-9/02 – "Hughes de Lasteyrie du Saillant", DStR 2004, 551.

b) Sachverhalt

 

Rz. 110

Der Kläger Hugh de Lasteyrie du Saillant emigrierte im September 1998 von Frankreich nach Belgien, um dort eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Zum Zeitpunkt des Wegzugs hielt er Anteile an einer gesellschaftsteuerpflichtigen Gesellschaft mit Sitz in Frankreich, die ihn zum Bezug von mehr als 25 % der Gewinne der Gesellschaft berechtigten. Aufgrund des Wegzugs wurden die in diesen Anteilen ruhenden stillen Reserven vom französischen Fiskus besteuert. Diese Besteuerung, unabhängig von einer möglichen Stundung, verstößt nach Auffassung des Klägers gegen sein Recht auf Niederlassungsfreiheit.

 

Rz. 111

Rechtsgrundlage für den Steueranspruch Frankreichs war Art. 167 bis Abs. 1 Code général des impôts (CGI), wonach Steuerpflichtige, die ihren steuerlichen Wohnsitz während der letzten zehn Jahre mindestens sechs Jahre in Frankreich hatten, zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihren Wohnsitz verlegen, hinsichtlich der Wertsteigerungen besteuert werden, die für Gesellschaftsrechte eines Gesellschafters festgestellt werden.

 

Rz. 112

Die deutsche Regierung machte im Verfahren geltend, dass Art. 167 bis CGI die Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen dem Wegzugs- und dem Zuzugsstaat zugrunde liegt. Dabei ergebe sich die Berechtigung des Wegzugsstaats, Wertsteigerungen bei Beteiligungen an Kapitalgesellschaften zu besteuern, daraus, dass diese i.d.R. durch die Geschäftstätigkeit in diesem Staat entstanden sind. Sie seien somit im Vermögen des Steuerpflichtigen angefallen, der bis zu seinem Wegzug in diesem Staat der Besteuerung unterlag.

c) Entscheidung des EuGH

 

Rz. 113

Der EuGH führt in seinem Urteil zunächst aus, dass Art. 167 bis CGI durchaus geeignet ist, die in Art. 43 EG garantierte Niederlassungsfreiheit zu beschränken. Zu beachten ist hier insbesondere, dass Art. 167 bis CGI die Besteuerung von nur latenten Wertsteigerungen betrifft. Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit folgert der EuGH aus der zumindest abschreckenden Wirkung von Art. 167 bis CGI auf Auswanderungswillige. Denn der Auswanderungswillige, der sein Recht auf Niederlassungsfreiheit nutzen und seinen Wohnsitz in das Ausland verlegen will, wird gegenüber der Person, die ihren Wohnsitz in Frankreich beibehält, benachteiligt. Der Auswanderer unterliegt allein wegen der Verlegung seines Wohnsitzes der Besteuerung im Hinblick auf unrealisierte Gewinne, wogegen derjenige, der in Frankreich bleibt, diese Gewinne erst bei der Realisierung versteuern muss. An dieser Schlussfolgerung ändert auch die mögliche Stundung nichts. Sie wird nicht automatisch gewährt und unterliegt strengen Voraussetzungen.

 

Rz. 114

Zulässig wäre diese beschränkende Maßnahme nur, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem EG-Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt würde und sie überdies durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Das Vorbringen, Art. 167 bis CGI beuge der Steuerflucht vor, schütze vor einer Umgehung des französischen Steuerrechts und unterbinde die nur vorübergehende Verlegung des steuerlichen Wohnsit...

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