Rz. 255

(1) Das Vereinigte Königreich ist nach mehr als 40 Jahren (1973 bis 2020) aus der Europäischen Union ausgetreten. Es ist der erste Austritt eines Mitgliedstaats in der Geschichte der Europäischen Union. Für den Austritt gibt es keinerlei historische Vorbilder. Die Rechtsunsicherheit ist in allen Bereichen groß.

(2) Das Vereinigte Königreich ist seit dem 1.1.2021 ein Drittstaat. Die europäische Niederlassungsfreiheit findet im Verhältnis zum Vereinigten Königreich keine Anwendung mehr. Damit hat auch die europarechtliche Gründungstheorie im Verhältnis zum Vereinigten Königreich keine Grundlage mehr. Alle europäischen Verordnungen und Richtlinien auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts haben insoweit ihre Gültigkeit verloren. Einzelne Rechtsakte gelten als nationales Recht weiter.

(3) Das Austrittsabkommen (Withdrawal Agreement) vom 12.11.2019 sah eine Übergangsfrist vor. Danach galt das europäische Recht bis zum 31.12.2020 im Vereinigten Königreich fort. Die Übergangsfrist endete am 31.12.2020 und wurde nicht verlängert.

(4) Das Handels- und Kooperationsabkommen (Trade and Cooperation Agreement) vom 24.12.2020 ist am 1.1.2021 vorläufig in Kraft getreten. Das Abkommen enthält keine besonderen Regelungen zum Gesellschafts- und Unternehmensrecht. Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen die allgemeinen Regelungen des Abkommens auf die Anerkennung von Gesellschaften haben. Von entscheidender Bedeutung sind insoweit die Regelungen zu Dienstleistungen und Investitionen.

(5) Für Gesellschaften aus dem Vereinigten Königreich gilt aus deutscher Sicht seit dem 1.1.2021 grundsätzlich die (modifizierte) Sitztheorie und nicht mehr die (europarechtliche) Gründungstheorie. Kapitalgesellschaften mit Satzungssitz im Vereinigten Königreich und Verwaltungssitz in Deutschland würden demnach nicht mehr als Kapitalgesellschaften (mit beschränkter Haftung der Gesellschafter), sondern als Personengesellschaften (mit unbeschränkter persönlicher Haftung aller Gesellschafter) bzw. als Einzelunternehmen anerkannt.

(6) Vorrangig gegenüber dem deutschen Gesellschaftskollisionsrecht ist allerdings das Handels- und Kooperationsabkommen (Trade and Cooperation Agreement) vom 24.12.2020. Die darin vereinbarten Regelungen zur Meistbegünstigung könnten zur Folge haben, dass für Gesellschaften aus dem Vereinigten Königreich (in gleicher Weise wie für Gesellschaften aus den anderen EU- und EWR-Mitgliedstaaten und den USA) weiterhin die Gründungstheorie gilt. Grundlage dafür wäre dann aber nicht mehr die europäische Niederlassungsfreiheit, sondern die Meistbegünstigung des Handelsabkommens (abkommensrechtliche Gründungtheorie).

(7) Das Handels- und Kooperationsabkommen (Trade and Cooperation Agreement) vom 24.12.2020 setzt voraus, dass die Gesellschaften im Vereinigten Königreich nachhaltig unternehmerisch tätig sind ("engaged in substantive business operations in the territory of the United Kingdom"). Der Begriff der "substantive business operations" ist in dem Abkommen nicht näher definiert. Mit dieser Regelung soll vor allem eine missbräuchliche Nutzung des Abkommens (z.B. durch Briefkastengesellschaften) verhindert werden.

(8) (a) In den Jahren von ca. 2000 bis 2015 habe viele deutsche Unternehmensgründer eine englische private limited company für ihre geschäftlichen Tätigkeiten in Deutschland errichtet. Nach verschiedenen Schätzungen gibt es heute noch rund 10.000 solcher Gesellschaften, die meist mit einer inländischen Zweigniederlassung im deutschen Handelsregister eingetragen sind.

(b) Die meisten dieser Gesellschaften haben ihren Satzungssitz im Vereinigten Königreich und ihren Verwaltungssitz in Deutschland und waren im Vereinigten Königreich nie nachhaltig unternehmerisch tätig. Es handelt sich dabei um unechte Auslandsgesellschaften (Scheinauslandsgesellschaften). Diese Gesellschaften werden von dem Handels- und Kooperationsabkommen (Trade and Cooperation Agreement) vom 24.12.2020 in der Regel nicht geschützt, da sie im Vereinigten Königreich keine erhebliche Geschäftstätigkeit ausgeübt haben ("engaged in substantive business operations in the territory of the United Kingdom"). Für diese Gesellschaften gilt aus deutscher Sicht seit dem 1.1.2021 die (modifizierte) Sitztheorie.

(c) Nur wenige dieser Gesellschaften dürften ihren Satzungs- und Verwaltungssitz im Vereinigten Königreich haben und dort in erheblichem Umfang geschäftlich tätig sein. Für diese echten Auslandsgesellschaften hat sich die Rechtslage nicht geändert. Echte Auslandsgesellschaften werden von dem Handels- und Kooperationsabkommen (Trade and Cooperation Agreement) vom 24.12.2020 geschützt ("engaged in substantive business operations in the territory of the United Kingdom"). Diese Gesellschaften werden in Deutschland auch nach dem 1.1.2021 unverändert als Kapitalgesellschaften anerkannt. Für diese gilt die (abkommensrechtliche) Gründungstheorie.

(d) Die Unterscheidung zwischen unechten und echten Auslandsgesellschaften wird in der Praxis zu einer gewissen Rechtsunsicherheit ...

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