Rz. 153

Die Rechtsprechung hat sich mit der Frage des Schicksals von Betriebsvereinbarungen, Gesamtbetriebsvereinbarungen und Konzernbetriebsvereinbarungen bisher nur sehr eingeschränkt befasst. Auch in der Literatur gibt es kaum umfassende, dogmatisch hergeleitete Veröffentlichungen zu diesem Thema.

 

Rz. 154

Anknüpfungspunkt für die Geltung von Betriebsvereinbarungen ist nach allgemeiner Auffassung der Betrieb.[178] Die normative Geltung von Betriebsvereinbarungen ist grundsätzlich auf den Betrieb begrenzt, dessen Belegschaft der die Betriebsvereinbarung abschließende Betriebsrat vertritt.[179] Der Betrieb ist also der betriebsverfassungsrechtliche Bezugspunkt und das Regelungssubstrat der Betriebsvereinbarung.[180] Dies gilt nicht nur für Einzelbetriebsvereinbarungen, sondern gleichermaßen für Gesamtbetriebsvereinbarungen und Konzernbetriebsvereinbarungen.[181]

 

Rz. 155

Weitestgehend Einigkeit besteht in Rechtsprechung und Literatur daher hinsichtlich der Umstrukturierungen, die Bestand und Struktur des Betriebs unberührt lassen und bei denen der Betriebsrat sein Regelmandat behält. Weniger einheitlich ist der Meinungsstand hinsichtlich solcher Umstrukturierungen, die sich (auch) auf betrieblicher Ebene auswirken.

[178] Vgl. nur Fitting u.a., § 77 Rn 34.
[180] BAG v. 7.6.2011 – 1 ABR 110/09, Rn 15; Salamon, RdA 2007, 153.
[181] BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, Rn 42; Fitting u.a., § 50 Rn 18 und § 58 Rn 39; DKKW/Trittin § 50 Rn 204; GK-BetrVG/Kreutz/Franzen, § 50 Rn 78 und § 58 Rn 59.

a) Rechtsprechung

 

Rz. 156

Höchstrichterliche Rechtsprechung gibt es wenig; die Mehrzahl der denkbaren Fallkonstellationen ist in der Rechtsprechung bislang ungeklärt. Soweit Entscheidungen des BAG vorliegen, betreffen diese nahezu ausschließlich unternehmensübergreifende Umstrukturierungen, also Konstellationen mit Betriebsinhaberwechsel bzw. Gemeinschaftsbetriebe mehrerer Unternehmen. Daneben existieren zwei Entscheidungen zu durch eine Vereinbarung nach § 3 BetrVG geschaffene betriebliche Einheiten.

 

Rz. 157

Dies hat zur Folge, dass es schwerfällt, aus den vorhandenen Entscheidungen allgemeine Grundsätze für die Bewertung der zahlreichen denkbaren Fallkonstellationen, mit denen sich das BAG noch nicht befasst hat, abzuleiten.

aa) Umstrukturierungen mit Betriebsinhaberwechsel

 

Rz. 158

Maßgebliches Kriterium für die Frage der (normativen) Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen im Rahmen von Umstrukturierungen mit Betriebsinhaberwechsel ist nach der Rechtsprechung des BAG die Wahrung der Identität des Betriebs. Nur im Falle der Identitätswahrung gelten die Betriebsvereinbarungen normativ beim Erwerber weiter; verliert der Betrieb seine Identität, endet die normative Geltung der abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen.[182]

 

Rz. 159

Welcher Identitätsbegriff in diesem Zusammenhang gilt und vor allem nach welchen Kriterien bestimmt wird, ob die Identität eines Betriebs gewahrt bleibt oder der Betrieb seine Identität im Rahmen einer Umstrukturierung verliert, ist allerdings in der Rechtsprechung noch recht unscharf.

 

Rz. 160

Es ist dem Grundsatz nach davon auszugehen, dass nicht der nach der Rechtsprechung des EuGH und des BAG sehr weite Betriebs(identitäts)begriff des § 613a BGB gelten kann.[183] Andernfalls stellte sich die Frage, welchen Anwendungsbereich § 613a Abs. 1 S. 2 BGB – zumindest im Bereich des Betriebsteilübergangs – noch hätte. Entweder es läge ein identitätswahrender Betriebsteilübergang vor, dann gälten die Betriebsvereinbarungen normativ weiter und der nur als Auffangtatbestand verstandene[184] § 613a Abs. 1 S. 2 BGB griffe aus diesem Grund nicht, oder es läge ein Identitätsverlust des Betriebsteils vor, dann läge in der Sache bereits kein Betriebsteilübergang vor und der Anwendungsbereich des § 613a BGB wäre aus diesem Grund nicht eröffnet.

 

Rz. 161

Auch das Schicksal des Betriebsrats bei Umstrukturierungen, also insbesondere die Frage, ob ein Betriebsrat bei einer Umstrukturierung sein Regelmandat behält oder ob er dieses verliert und nur noch ein Übergangsmandat gem. § 21a BetrVG innehat, hängt nach allgemeiner Auffassung[185] davon ab, ob der Betrieb im Zuge der Umstrukturierung seine Identität wahrt oder verliert.

 

Rz. 162

Der 1. Senat des BAG scheint jedoch – allerdings ohne dies zu thematisieren – für das Schicksal von Betriebsvereinbarungen im Zusammenhang mit Umstrukturierungen nicht auf den (engeren) Identitätsbegriff bzw. das Konzept von Identitätswahrung und Identitätsverlust abzustellen, das für das Schicksal des Betriebsratsmandats entwickelt wurde. Denn er kommt bei Konstellationen, in denen nach allgemeiner Auffassung wegen Verlust der Betriebsidentität der Betriebsrat nur ein Übergangsmandat innehat, zu dem Ergebnis, dass die Betriebsvereinbarungen normativ weitergelten können.

 

Rz. 163

So geht das BAG in inzwischen gefestigter Rechtsprechung davon aus, dass bei Betriebsteilübergängen eine normative Weitergeltung der für den Ursprungsbetrieb geltenden Betriebsvereinbarungen u...

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