Rz. 254

Gemäß § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB wird der Wert einer lebzeitigen Schenkung nur dann vollständig in den Pflichtteilsergänzungsanspruch einbezogen, wenn der Erbfall innerhalb eines Jahres nach Ausführung der Zuwendung eintritt. Andernfalls verringert sich der zu berücksichtigende Wert für jedes zwischen dem Zuwendungszeitpunkt und dem Erbfall verstrichene Jahr um 1/10. Auf diese Weise wird der Umfang des Pflichtteilsergänzungsanspruchs im Zeitverlauf kontinuierlich abgeschmolzen. Die bis zur Erbrechtsreform geltende "Fallbeil-Regelung", wonach der Pflichtteilsergänzungsanspruch erst zehn Jahre nach Ausführung der Zuwendung, dann aber vollständig, entfiel, wurde hierdurch ersetzt. Der Mechanismus lässt sich beispielhaft wie folgt verdeutlichen:

 

Rz. 255

 

Beispiel

Der alleinstehende Erblasser E verstirbt im Januar 2020 und hinterlässt lediglich einen Sohn. Alleinerbin ist seine Lebensgefährtin L, der er bereits im Februar 2015 einen Geldbetrag i.H.v. 500.000 EUR zugewendet hatte. Der real vorhandene Nachlass hat einen Nettowert von 100.000 EUR.

Der reale Nachlass ist um den zu berücksichtigenden Wert der lebzeitigen Zuwendung zu erhöhen, um den fiktiven Nachlass, also die Bemessungsgrundlage für den Gesamtpflichtteil, zu bestimmen. Die Schenkung im Februar 2015 hatte einen Wert von 500.000 EUR.[755] Seit der Zuwendung sind aber vier Jahre abgelaufen.[756] Somit ist der Wert der Zuwendung um 4/10 abzuschmelzen, sodass lediglich noch ein Betrag von 300.000 EUR zur Ermittlung des fiktiven Nachlasses zu berücksichtigen ist. Der fiktive Nachlass ergibt sich daher mit einem Betrag von 400.000 EUR (realer Nachlass 100.000 EUR + zu berücksichtigende Zuwendungen 300.000 EUR). Der Gesamtpflichtteil beträgt 200.000 EUR (= ½ von 400.000 EUR). Davon entfallen 50.000 EUR auf den ordentlichen Pflichtteil i.S.v. § 2303 BGB und 150.000 EUR auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB.

 

Rz. 256

Diese auf den ersten Blick günstige Regelung für den Beschenkten wird aber in der Praxis nur in wenigen Fällen zu einer tatsächlichen Wertabschmelzung führen. Denn eine den Fristbeginn auslösende Leistung i.S.v. § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB wird – auch nach Umsetzung der Reform – entsprechend der bisherigen Rechtsprechung nur dann vorliegen, wenn der Erblasser nicht nur seine Rechtsstellung als Eigentümer endgültig aufgibt, sondern auch darauf verzichtet, den verschenkten Gegenstand weiterhin im Wesentlichen selbst zu nutzen.[757] Dasselbe gilt für Wertabschmelzungen von ehebedingten Zuwendungen. Denn auch hier wird die pro-rata-Regelung erst greifen, nachdem die Ehe aufgelöst wurde.

[755] Die zwischenzeitliche Geldentwertung bleibt aus Gründen der Übersichtlichkeit hier unberücksichtigt.
[756] Der Erblasser starb im fünften Jahr nach der Schenkung.
[757] Vgl. hierzu auch Bonefeld/Lange/Tanck, ZErb 2007, 292, 295; Lange, DNotZ 2009, 732, 737.

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