Rz. 55

"Ziel [der Beurteilung der Kraftfahreignung] ist und bleibt es, die [sic] Situation der BürgerInnen bezüglich ihres Mobilitätsbedürfnisses und ihres Rechtsanspruches auf Sicherheit gerecht zu werden."[5] Dieses Zitat verdeutlicht das Spannungsfeld, in dem sich Verkehrspsychologen und Verkehrsmediziner während einer Begutachtung befinden.

 

Rz. 56

Erweitert man die Definition des Mobilitätsbedürfnisses in Richtung eines Mobilitätszwangs, verschärft sich der Interessenkonflikt sogar noch. In bestimmten ländlichen Regionen beispielsweise ist man "einfach auf das Auto angewiesen" und oft genug hängen ganze Existenzen vom Besitz der Fahrerlaubnis ab. Daher sollte der Fahrerlaubnisentzug kein Allheilmittel, sondern die letzte Instanz darstellen. Zu berücksichtigen ist dabei außerdem, dass die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis in vielen Fällen ein wichtiges Hilfsmittel zur beruflichen und sozialen Rehabilitation ist und gerade bei jungen Leuten der Führerschein auch als Ausweis des Erwachsenseins angesehen wird und einen hohen Freizeitwert besitzt.

 

Rz. 57

Doch rechtfertigt das Schicksal des Einzelnen, der vielleicht durch den Fahrerlaubnisentzug seinen Arbeitsplatz verliert, nicht das Dulden von gefährlichen Verhaltensweisen und daraus resultierenden hohen Unfallrisiken im Straßenverkehr. Immerhin existiert neben dem Recht auf und dem Zwang zur Mobilität auch das Recht auf Sicherheit im Straßenverkehr. Daher gilt es stets unter Beachtung der Gleichbehandlung, aber auch einzelfallspezifischen Faktoren abzuwägen. Ziel einer Begutachtung sollte also stets sein, im Sinne des Einzelnen und der Gemeinschaft zu entscheiden und beiden Parteien hinreichend gerecht zu werden. Die Untersuchungen sind also weder eine Art "Nebenstrafe" noch ein "Idiotentest". Sie sind vielmehr eine Hilfestellung für den Betroffenen bei der Durchsetzung des Rechts auf Auto-Mobilität, allerdings nur solange dieses Recht nicht mit der Verkehrssicherheit kollidiert.

 

Rz. 58

Deutlich wird dies vor allem bei der Betrachtung der Änderung der Behandlung von Fahrern mit hohem Punktestand ("Mehrfachtäter") im Fahreignungsregister (bis 30.4.2014 Verkehrszentralregister) ab 1999. Früher wurde bei 18 Punkten unter Zuhilfenahme der MPU im Einzelfall entschieden, ob die Fahrerlaubnis zu entziehen sei. Seit Inkrafttreten der FeV wird hier schematisch und praktisch ausnahmslos gehandelt, indem bei Erreichen oder Überschreiten der 8 Punkte (vormals 18 Punkte) von der Nichteignung des Fahrers ausgegangen und die Fahrerlaubnis entzogen wird. Mithilfe der MPU kann dann im Einzelfall überprüft werden, ob die Fahreignung als wieder gegeben anzusehen ist.

 

Rz. 59

Insoweit wird hier auch deutlich, dass medizinische und psychologische Gutachter und Rechtsanwälte letztendlich im selben Boot sitzen, indem beide Garanten der Einzelfallgerechtigkeit sind.

[5] Koch, Vorwort zur 3. Auflage Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung, in: Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP)/Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) (Hrsg.), Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung: Beurteilungskriterien, 3. Aufl. 2013, S. 5.

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