Rz. 1

Nur wenige Rechtsordnungen gewähren eine absolute Testierfreiheit, ohne dass bestimmten Angehörigen zwingende Rechte irgendeiner Art gegen den Nachlass zukommen.[1] In kaum einem anderen Rechtsgebiet schlagen sich traditionell und kulturell bedingte politisch-gesellschaftliche Grundanschauungen und ihre Änderungen so deutlich nieder wie im Pflichtteilsrecht. Das gilt z.B. für die Frage, wer pflichtteilsberechtigt ist (z.B. in einigen Rechtsordnungen nur der Ehegatte, in anderen nur die Verwandten, in immer weniger Rechtsordnungen die Eltern und andere Aszendenten), wie hoch der Pflichtteil ist (z.B. in Frankreich bis zu ¾ des Nachlasses, in Norwegen betragsmäßig begrenzt) und welcher Art die Berechtigung ist (Miterbenanteil, Geldanspruch oder Unterhaltsanspruch). Daher kommt der Beurteilung, welches Recht anwendbar ist und ggf. der Einflussnahme auf die Rechtsanwendung, im Pflichtteilsrecht eine ganz besondere praktische Bedeutung zu.

 

Rz. 2

Zunächst ist hier das aus der germanischen Rechtstradition stammende System des Noterbrechts zu nennen. Dies beruht auf dem Gedanken, dass die Blutsverwandten ausschließlich nach den gesetzlichen Regeln als Erben berufen sind. Erst nach Intervention der Kirche im Mittelalter kann über den "Freiteil" der Erblasser durch Schenkung oder Vermächtnis verfügen. Die Pflichtteilsquoten werden negativ bestimmt, indem die pflichtteilsfreie Quote (quotité disponible) an einem fiktiven, um die lebzeitigen Schenkungen ergänzten Nachlass festgelegt wird. Hat der Erblasser die pflichtteilsfreie Quote überschritten und die Noterbrechte verletzt, können die Pflichterben (héritiers réservataires) eine Gestaltungsklage in Form der Herabsetzungsklage erheben, mit der die Vermächtnisse ganz bzw. zu dem erforderlichen Teilbetrag für unwirksam erklärt werden. Ist auch nach Hinfälligwerden sämtlicher letztwilliger Verfügungen die Noterbquote nicht wiederhergestellt – etwa weil der Erblasser nur unter Lebenden verfügt hat –, werden die Schenkungen beginnend mit der zeitlich Letzten gekürzt. Daraus ergibt sich, dass der Bemessung des Noterbrechts ein fiktiver Netto-Nachlass zugrunde zu legen ist, dem sämtliche lebzeitigen Schenkungen des Erblassers zugerechnet sind. Dieses in Nordfrankreich fortgeltende "germanisch-rechtliche" System ist 1804 bei Schaffung des gesamtfranzösischen Code Napoléon aufgegriffen worden und fand mit diesem Verbreitung in Belgien, den Niederlanden,[2] Spanien, Italien, Portugal, der Schweiz, Griechenland sowie vielen Staaten Lateinamerikas. Es gilt aber auch in Rumänien, Kroatien und anderen Teilen Osteuropas. Auch der vom BVerfG entwickelte Grundsatz der Familienteilhabe[3] könnte mit derartigen germanisch-rechtlichen Ideen begründet werden.

 

Rz. 3

Von einem System der unbegrenzten Testierfreiheit geht die Regelung der family provision aus. Die in England ursprünglich für die Erbfolge des beweglichen Vermögens (personalty) zuständigen kirchlichen Gerichte gingen auf der Basis des römischen Rechts von einer Dreiteilung des Nachlasses aus, nach der ein Teil dem Ehegatten, ein weiterer Teil den Abkömmlingen und ein letzter Teil der testamentarischen Verfügung vorbehalten war – damals i.d.R. für Stiftungen an die Kirche. Nachdem nicht nur in Großbritannien, sondern auch in anderen Ländern des Common-Law-Rechtskreises althergebrachte dingliche Beteiligungen des Witwers bzw. der Witwe am unbeweglichen Nachlass (right of courtesy und right of dower) im 18. und 19. Jahrhundert abgeschafft und damit alle Beschränkungen der Testierfreiheit beseitigt worden waren, setzte 1900 von Neuseeland ausgehend eine Gegenbewegung ein. Ehegatten und bedürftigen bzw. minderjährigen Abkömmlingen, die der Erblasser nicht angemessen bedacht hat, wurde ein Anspruch auf Unterhaltssicherung gewährt. Der Umfang der family provision hängt nicht von der Höhe des gesetzlichen Erbteils oder von bestimmten Quoten ab. Der Betrag wird vom Gericht nach billigem Ermessen festgelegt. In Einzelfällen kann er den gesetzlichen Erbteil erreichen und sogar übersteigen. Entsprechende Gesetze gelten nun auch in England, Irland, den anglophonen kanadischen Provinzen, Israel und in den australischen Teilstaaten.

 

Rz. 4

Das im deutschen BGB geltende System mit seinem auf Geldzahlung gerichteten Pflichtteilsanspruch, der keine dingliche Beteiligung am Nachlass gewährt und sich am gesetzlichen Erbteil orientiert, erscheint wie ein Kompromiss zwischen beiden Konzeptionen. Schuldrechtliche Pflichtteile gab es bereits im römischen Recht.[4] Außer in Deutschland gilt dieses System heute in Österreich, Ungarn, Polen und Serbien sowie in Dänemark und Schweden. In neuerer Zeit sind auch die Niederlande und – im praktischen Ergebnis – auch Frankreich und das tschechische Recht aus dem System der Vorbehaltsrechte zum Geld-Pflichtteil übergegangen. Aber auch die quotenmäßig bestimmten elective rights im Recht der US-amerikanischen Einzelstaaten kommen dieser Konzeption nahe, wenngleich diese ausschließlich Ehegatten, nicht aber Abkö...

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